Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
bockig die Hände vor der Brust.
Die Augen der Mitpatientin weiteten sich vor Schreck. Tränen stiegen ihr in die Augen. Ich starrte auf das Bild. Starrte wie hypnotisiert auf das Bild. Auf mein Bild, das ich gerade mit der Mitpatientin gemalt hatte. Es sah furchtbar aus. Es sah aus, als wären mein Mann und mein kleinstes Kind gestorben. Auf schreckliche Weise gestorben. An dieser Stelle war die Stunde für mich beendet. Ich war völlig fertig. Aufgelöst in Tränen. Zitternd. Heftigst schluchzend. Es schüttelte meinen Körper, und der Schmerz raste durch meine Seele wie eine tobende Brandung. So war das also. So tief saß der Stachel. Felix war für mich gestorben. Gestorben an dem Tag, an dem er Nein sagte, Nein zu einem zweiten Kind. An dem Tag, an dem mir mein Mann die Sinnlosigkeit und Nutzlosigkeit meines Tuns seit Mias Geburt bescheinigt hatte. Die Quittung mit der NULL. Es war zu früh, um das bis ins letzte Detail zu durchdenken. Viel zu früh, um es zu erklären und transparent zu machen. Ich hatte einen Faden in der Hand und dachte, DAS sei es nun. Dass an dem Faden noch ein dickes Knäuel hing, konnte ich nicht begreifen. Das kam später. Viel später.
Eine zweite Sitzung, die mir vermutlich das Überleben gesichert hat, war die Imaginationstherapie. Ich kann sehr gut in Bildern denken und habe eine blühende Fantasie. In der Imaginationstherapie ist das eine wichtige Voraussetzung. Wenn Sie mit innerlichen Bildern nichts anfangen können, dann bringt Sie diese Therapieform nicht weiter. Bei mir katapultierte sie mich in Schallgeschwindigkeit um Lichtjahre nach vorn. Schneller, als wenn ich diese Problematik sprechend angegangen wäre. Aber auch gefährlicher. Existentiell extrem gefährlich. Wir hatten seicht begonnen: »Stellen Sie sich vor, Sie säßen mitten in einem Wald unter einem Baum ... Können Sie sich vorstellen, wie sich das weiche Moos unter Ihnen anfühlt? ... Fühlen Sie es richtig? ... Können Sie es unter Ihren Händen spüren?«
Seicht. Sehr seicht ...
In der dritten Woche kam dann der Flash: Ich sollte mir ein Bild vorstellen. Von mir selbst. Als kleines Kind. Das ist schwer, wenn man kaum ein Bild von sich hat. Im wahrsten Sinne des Wortes kaum ein Bild von sich selbst hat. Noch nicht einmal auf Zelluloid ... Ich überlegte. Kramte in meiner Erinnerung. Plötzlich war es da. Keine Ahnung, wo es herkam, aber da war es!
Das Mädchen war aufgestanden. Da war doch etwas? Ein Geräusch? Ein Mensch? Kam da jemand? Hatte man sie endlich gefunden? Hatte doch noch jemand das Verlies gefunden? Aufgeregt lief sie zur Gefängnistür. Krallte die Händchen um die Gitter und reckte den Hals. Doch, doch. Sie hatte sich nicht getäuscht. Da kam jemand. Nach so langer Zeit kam endlich jemand hier runter. Sie hielt das nicht mehr aus. Rüttelte hektisch an der Tür. Und schrie. Schrie mit ungeahnter Kraft: »Hooooooolt miiiiiich hiiiiiiier raaaaaauuuuuuuus!« Dann lauschte sie. Die Schritte kamen näher. Sie durften nicht wieder weggehen. Sie mussten sie hier rausholen. Sie wollte nicht umsonst gewartet haben!
Das Bild war präsent. So präsent, als hätte ich es schon seit Jahren in einem Fotorahmen an der Wand hängen. Ich staunte nicht schlecht. Meine Fantasie ließ mich nicht im Stich. Es konnte weitergehen.
»Was sehen Sie, Frau Birkhoff? Beschreiben Sie mir genau, was Sie sehen.« Die Stimme der Therapeutin war warm und sanft. Ich blickte in mich hinein. »Ein hübsches Mädchen sehe ich. Vielleicht so fünf, maximal sechs Jahre alt. Schlank. Eher zart. Hübsch. Sympathisch. Große Kulleraugen. Dunkle Augen. Neugierige Augen. Erwartungsfroh. Freudig. Intelligent. Das Mädchen guckt unheimlich wissend. Kann ich schlecht erklären. Dunkle Haare. Locken. Ein Kind, nach dem man sich umschaut. Das einen anspricht. Mich jedenfalls. Ich finde sie putzig. Richtig niedlich.«
Das Mädchen war gespannt. Freute sich. Endlich. Da stand sie: ihre Retterin, ihre Erlöserin. Mit einer Polizistin hatte sie nicht gerechnet. Aber eine Polizistin war toll. Die war stark. Die würde die Tür hier schon aufkriegen. Alles würde jetzt gut.
»So, Frau Birkhoff. Dann möchte ich Sie bitten, auf das Kind zuzugehen. Fassen Sie es noch nicht an. Schauen Sie einfach nur hin. Okay?«
Ich nickte. Ging auf das Kind zu und merkte, wie sich innerlich etwas tat. Ich würde heulen. Ich würde schon wieder heulen. Das konnte nicht gut gehen. Ich bekam Angst. Atmete tief durch. Das hatte ich bei der Atemgymnastik
Weitere Kostenlose Bücher