Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
könnte. Arndt konnte sich kaum beruhigen. Er nannte seine Mutter »Mami« und litt wie ein Tier. Zwei Jahre später ging Arndt für ein Jahr als Austauschschüler nach Amerika. Als er zurückkehrte, war aus dem schüchternen Jungen ein hübscher junger Mann geworden, dem die Zeit in Amerika sichtlich gutgetan hatte. Vielleicht lebt Arndt heute in Amerika, dem Land, das ihm für viele Monate Ruhe vor seiner Mutter geboten hatte. Von Werner weiß ich nur, dass dieser immer nach München wollte. Ich habe von beiden Jungs nie wieder etwas gehört. Als ich zwanzig war, erfuhr ich über Umwege, dass Uta ein schreckliches Schicksal ereilt hatte. Tagelang war sie einfach nicht in der Schule erschienen, und meine Mutter ließ dann im Auftrag der Schule mit einem Schlüsseldienst die Wohnung öffnen. Uta saß kichernd und lachend in ihrem Bett. Sie stank erbärmlich, hatte sich eingenässt und spielte mit ihrem eigenen Kot. Im Krankenhaus stellten die Ärzte dann fest, dass sich ein faustgroßer Tumor in Utas Gehirn breitgemacht hatte. Bei der OP ist Uta gestorben. Meine Mutter muss sich damals fürchterlich aufgeregt haben, dass Utas Söhne weder bei der Beerdigung noch bei der Wohnungsauflösung zugegen waren. Als mir diese Geschichte erzählt wurde, konnte ich Werner und Arndt bestens verstehen. Meine Sympathien gehörten eindeutig ihnen.
Nach ein paar Tagen bei Uta hatte Jürgen für meine Mutter und mich eine kleine möblierte Dachgeschosswohnung in der Nähe der Schule, an der meine Mutter unterrichtete, gefunden. Sooft es ging, durfte ich bei Oma schlafen, und ich war dankbar dafür. In der kleinen Wohnung war absolut kein Platz für uns beide: Sie bestand aus einem Minizimmer mit Schlafcouch und einem Schrank. Ein Kohleofen diente als Heizquelle. Der zweite Raum war vom ersten durch einen Vorhang abgetrennt. Das war die Küche, und hätte nicht unter dem Dachfenster in der Küche eine zweite Couch gestanden, so hätte ich mit meiner Mutter in einem Bett schlafen müssen. Eine Dusche befand sich als kleine Kabine zwei Stockwerke unter uns im Flur, und eine Toilette gab es ein Stockwerk tiefer. Ständig war es abartig kalt dort. Ich hasste diese Behausung.
Wenn ich dort übernachten musste, kam Jürgen am Abend vorbei und brachte mich ins Bett. Dankbar und hungrig nach Liebe und Zärtlichkeit fand ich es wohltuend, von ihm in den Schlaf gekrault zu werden. Jürgen half uns, und Jürgen half gern.
Normalität herrschte in meinem elfjährigen Leben ausschließlich in der Schule und bei meiner Oma. Ich wagte es gar nicht, Lehrern in der Schule von den Vorkommnissen zu Hause zu erzählen, weil mir alles viel zu peinlich und viel zu asozial war. Lieber vertraute ich mich meinen Freundinnen an, und ich war glücklich, wenn diese mich zu sich nach Hause einluden. In den meisten Familien war ich ein gern gesehener Gast, weil ich nicht groß auffiel und keine Ansprüche stellte. Überdies war ich sehr höflich und sagte »bitte« und »danke«, aber nicht, weil ich es sagen musste, sondern weil es mir ein echtes Bedürfnis war. Ich war es einfach nicht gewohnt, etwas zu trinken angeboten zu bekommen, geschweige denn, dass sich irgendjemand für mich Mühe machte und mich gar zum Essen einlud. Wenn Dana sich bei mir ausheulte, dass sie jede Woche die Treppe putzen musste oder ihre Mutter mal wieder verlangte, dass sie ihr Zimmer aufräumen sollte, dann konnte ich eigentlich nur müde lächeln. Verglichen mit meinem Leben waren das alles nur Kinkerlitzchen. Und trotzdem: Wenn es um unsere ureigenen Probleme ging, waren wir Mädchen immer füreinander da und hörten uns stets aufmerksam zu. Ich glaube, die Tatsache, dass wir uns derartig respektierten und in diesem extremen Maße einander ernst nahmen, hat damals das Fundament für eine lebenslange Freundschaft geschaffen. Auch heute noch genießen wir das Gefühl, uns nichts erst langatmig erklären zu müssen, sondern bereits in dem Augenblick, in dem wir den Mund aufmachen und anfangen zu erzählen, verstanden werden. So intolerant viele von uns auch erzogen wurden: Im Miteinander herrschte immer eine einzigartige Toleranz und Offenheit.
Dass wir unsere Eigentumswohnung so plötzlich wieder verlassen mussten, belastete mich nicht weiter. Ich besaß ohnehin keine wertvollen Güter und vermisste meinen Vater verständlicherweise nicht eine Sekunde lang. Da ich bei meiner Oma weitestgehend abgeschirmt von den Alltagssorgen meiner Mutter lebte, bekam ich auch nur am Rande mit,
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