Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
egal. Ich wollte die anderen schließlich nicht enttäuschen, und so grunzte ich laut und deutlich und robbte mich an den offensichtlich schlafenden Jürgen heran. Als Jürgen dann aufwachte, weil ich mit meinen Füßen an seinen stacheligen Beinen herumwurschtelte, rief er: »Ach Gundis! Was willst du denn schon wieder von mir? Lass mich doch schlafen.«
Unterdrücktes Gekicher war von der Tür her zu hören. Ich schien mit meiner Aktion die anderen zu belustigen und fühlte mich angespornt. Ich hielt meine Füße nicht still und fuhr unbeirrt fort, als Jürgen sich auf einmal zu mir herüberdrehte und stöhnte: »Gundis, bist du denn nie zufrieden? Was willst du denn jetzt?« Er rollte sich fast auf mich, begrapschte mich zwischen den Beinen und schickte sich an, mich zu küssen.
Panik ergriff mich. Jetzt ging mir das Ganze deutlich zu weit, und ich versuchte, Jürgen von mir wegzuschieben.
»Christine! Das bist ja DUUU!«, rief Jürgen überrascht, und kreischendes Gelächter war von der Tür zu hören. Jürgen warf sich auf seine Seite zurück, und schon ging das Licht an, und Ulf und Martin schmissen mit dem nassen Klopapier nach Jürgen. Alle lachten und juchzten, und mein Herz pochte. Ich fand die Situation gar nicht mehr komisch und wollte nur noch raus aus dem Bett. Trotzdem lachte ich mit. Wenn alle die Komik an dieser Situation sahen, dann wäre ich ein Spielverderber gewesen. Schließlich wollte ich dazugehören und nicht aus der Reihe tanzen.
Als ich später in dem riesigen Leopardenbett lag, rasten meine Gedanken gleich einer Achterbahn durch meinen Kopf. Hatte Jürgen wirklich nicht gemerkt, dass ICH da gelegen hatte? Fand ich das alles so schrecklich, weil Jürgen der Freund meiner Mutter war? Ich mochte Jürgen doch, und ich stellte mir vor, wie ich mich in seinem Bett gefühlt hätte, wenn er nicht der Freund meiner Mutter gewesen wäre. Ich fragte mich, ob ich Jürgen als MANN gut fand, und war völlig verwirrt.
Am nächsten Morgen erzählten alle von diesem tollen Streich, und ich beschloss beim Frühstück, jeden Gedanken, dass Jürgen mich eventuell reizvoll gefunden hatte, weit beiseitezuschieben. Ich bildete mir wirklich zu viel ein und hatte bestimmt Hirngespinste.
Der Winter kam unaufhaltsam, und schon bald stand Weihnachten vor der Tür. Meine Mutter war allerübelster Laune, weil Jürgen Heiligabend zunächst bei Margot und den Kindern verbringen wollte, um dann am späteren Abend mit Ulf und Martin ins Haus zu kommen und eine zweite Bescherung zu veranstalten. Mit angespannter Miene saß meine Mutter den Nachmittag vor dem Fernseher und strickte sich die Wut vom Leib. Als der Anruf von Jürgen dann endlich kam, packten wir die Päckchen und Pakete ins Auto, fuhren zum Haus und schleppten die Töpfe mit Knödeln, Rotkohl und Sauerbraten in die Küche. Der Hals meiner Mutter war schon wieder übersät mit ihren berühmten roten Hektikflecken, und ich hätte sonst etwas darum gegeben, den Abend bei meinen Großeltern verbringen zu können, so wie ich es in den letzten Jahren so gern getan hatte. Die Bescherung und den Abend mit Ulf und Martin empfand ich als reine Farce. Alle drei waren satt bis über beide Ohren, und meine Mutter platzte innerlich vor Wut, weil ich die Einzige war, die kräftig zulangte. Außer dem Sauerbraten hatte sie ohnehin nicht viel zubereitet, und ich verstand ihre finstere Miene nicht. Sobald es ging, verabschiedete ich mich und ging zu Bett.
Am nächsten Nachmittag holte Margot ihre Söhne ab. Mit einer Freundin und den Kindern fuhr sie nach Zermatt zum Skilaufen, und ich beneidete Ulf und Martin. Bestimmt würden sie eine Menge Spaß miteinander haben, denn Margot unternahm viel mit ihnen, und das gern. Der erste und zweite Weihnachtsfeiertag konnten nur Ärger bringen, denn meine Mutter war in absoluter Kampfstimmung. So gut es ging, versuchte ich Jürgen und meiner Mutter aus dem Weg zu gehen, was schwierig war, denn in »meinem Zimmer« gab es nichts, womit ich mich hätte beschäftigen können, und tagsüber hielt ich mich nie in diesem Raum auf, weil vom Tageslicht nicht viel zu sehen war. Ulf und Martins Zimmer waren durch die großen Fenster hell und freundlich und quollen vor Spielzeug nur so über, aber diese Räume waren tabu für mich. DAS hatten mir beide in der Vergangenheit deutlich zu verstehen gegeben. Zu allem Unglück hatte ich mein Buch Wir Kinder vom Bahnhof Zoo in der Wohnung liegen gelassen, und so blieb mir nur noch Bobby, dem ich
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