Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
beköstigen. In seinem Haus sollte nicht gekocht werden, weil er die Küche peinlich sauber hielt und es hasste, wenn der Essensgeruch bis ins Schlafzimmer gezogen war. In seinem Haus gab es keinen Hinweis auf die Existenz meiner Mutter oder von mir. Sämtliche Toilettenartikel und Kleidungsstücke mussten am Morgen wieder mitgenommen und am Abend wieder hingebracht werden, sodass meine Mutter jeden Abend mit einem riesigen Korb am Arm zu Jürgen fuhr.
Das Frühstück nahmen die beiden fortan auch nicht mehr gemeinsam bei uns zu Hause ein, sondern meine Mutter erschien alleine um zwanzig nach sieben, stürzte sich an den gedeckten Frühstückstisch, schlang hastig ein Brötchen in sich hinein und fuhr fünfzehn Minuten später zur Schule. Wir wechselten in dieser kurzen Zeit praktisch kein Wort miteinander, und ich spürte deutlich, dass es meiner Mutter wirklich zuwider war, mit mir allein an einem Tisch zu sitzen. Ihre Aversion war verletzend, denn oft genug hörte ich, wie sie Jürgen entrüstet am Telefon sagte: »Ich werde doch hier nicht den Abend mit meinem pubertierenden Töchterchen verbringen!« Selbst wenn Jürgen auf Geschäftsreisen war und erst mitten in der Nacht zurückkehrte, zog meine Mutter mit ihrem Korb in sein Haus. Ihr großes Schlafzimmer stand leer und glich nach einigen Wochen eher einer Abstell- und Bügelkammer denn einem gemütlichen Schlafraum. Die Kluft zwischen uns beiden war mittlerweile unüberbrückbar. Viel zu sehr war meine Mutter mit ihrem merkwürdigen Leben beschäftigt, und ich zählte die Tage bis zu meiner Volljährigkeit. Das Verhältnis zu Jürgen hingegen gestaltete sich zunehmend angenehmer für mich. Im Gegensatz zu meiner Mutter schien Jürgen die Nähe zu mir zu suchen und gern Zeit mit mir alleine zu verbringen. Dafür liebte ich ihn aufrichtig und war voller Dankbarkeit für ihn. Es gab Vorfälle, die mir Anlass gaben, über seine Sympathien für mich genauer nachzudenken.
Es war Herbst, und wir hatten mal wieder den Samstagnachmittag im Panzerübungsgelände verbracht. Ulf und Martin waren müde, und meine Mutter war wie immer völlig entnervt von dem Herumstehen im Nieselregen. Jürgen und ich fuhren los, um vom Chinesen Essen abzuholen. An den Wochenenden wurde in Jürgens Haus nur zusammen gefrühstückt. Gekocht wurde prinzipiell nicht, was ich natürlich völlig genial fand. Jürgen war in bester Laune. Er scherzte mit mir, und lachend kamen wir mit dem Essen zurück. Die gute Stimmung übertrug sich während des Essens auf die anderen, und plötzlich alberten alle miteinander herum. Es war ein sehr schöner und spaßiger Abend, und so staunten wir nicht schlecht, dass Jürgen sich relativ früh verabschiedete, um ins Bett zu gehen. Normalerweise war er meist noch länger als meine Mutter auf und ging lange nach uns Kindern schlafen. Er habe eine anstrengende Woche gehabt, entschuldigte er sich und zog sich ins Schlafzimmer zurück. Auffällig war, dass meiner Mutter nicht die Kinnlade herunterklappte, weil sie doch nun mit drei albernen Kindern allein war.
Mir selbst war es erst aufgefallen, als Martin plötzlich sagte: »Gundis, du kannst ja richtig lustig sein.« Martin und meine Mutter hatten eigentlich ein sehr gespanntes Verhältnis, weil Martin tierisch eifersüchtig auf sie war und mit seinen zehn Jahren die Trennung seiner Eltern schlecht verkraftet hatte.
»Ja natürlich«, konterte meine Mutter und schlug vor: »Wir ärgern Jürgen jetzt ein bisschen! Habt Ihr Lust?«
»Klaro«, kam es einhellig aus unseren Mündern. Jürgen ärgern war doch eine prima Idee.
Meine Mutter erklärte uns den Schlachtplan. Ich sollte mich an ihrer Stelle ins Bett legen und so tun, als sei ich meine Mutter. Sie erklärte mir, dass ich mich grunzend in die Decke rollen sollte, an Jürgen heranrobben müsste, um dann mit meinen Füßen unter seiner Decke an seinen Beinen entlangzustreichen. Auf diese Weise würde er bestimmt darauf reinfallen. Ulf und Martin sollten sich derweil mit nassem Klopapier »bewaffnen«, und in genau dem Moment, in dem Jürgen entdecken würde, dass gar nicht seine Gundis, sondern ich im Bett läge, ihren Vater mit den Klopapierbällchen bewerfen. Ulf und Martin waren begeistert und ich aufgeregt und gespannt, ob der Plan funktionieren würde.
Wir versteckten uns an der Schlafzimmertür, und ich ging wie selbstverständlich hinein und legte mich auf die Bettseite meiner Mutter. Als ich dort lag, wurde mir auf einmal mulmig zumute. Aber
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