Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
sehen würde, und gleichzeitig krampfte sich innerlich alles in mir zusammen. Eigentlich wollte ich sie lieb haben und sie so erleben, wie andere Menschen sie erlebten. Im Bekanntenkreis gab sie sich jung, frisch, dynamisch und äußerst humorvoll, und ihre witzigen Sprüche schienen bei den Leuten gut anzukommen. Mit ihrer sportlichen Kurzhaarfrisur und der schlanken Figur hätte sie keine Probleme gehabt, jederzeit einen anderen Mann kennen zu lernen. Sobald sie mit mir allein war, mutierte sie zu einer vollkommen anderen Person. Aus ihrer schlagfertigen Rhetorik wurden messerscharfe Worte, die verletzender als ein Samurai-Schwert waren. Ihr strahlender Blick verschwand hinter eiskalten Augen, und ihre Dynamik und ihr Esprit verwandelten sich in boshafte Tyrannei. Ich vermisste meine Mama, und ein dicker Kloß machte sich in meinem Hals breit. Und trotzdem: Ich wollte und ich musste sofort weg von diesen Menschen!
Punkt sechzehn Uhr standen die Mädels vor der Tür. Innerhalb einer Stunde waren Bücher, Stereoanlage, Kleidungsstücke, Yuccas und Hundekörbchen im Lieferwagen verstaut. In meinem neuen Zimmer waren andere Freundinnen damit beschäftigt, eine große Tischlerplatte aufzubauen, die als Schreibtisch, Fernsehtisch, Esstisch und Ablage zugleich dienen sollte. Das einzige Möbelstück, das wir mitnahmen, war mein Kleiderschrank, der völlig auseinanderfiel. Vom Bett nahm ich lediglich die Matratze und mein Bettzeug mit. Als wir fertig waren, glich das Zimmer einem Schlachtfeld. Alles, was ich nicht mehr haben wollte, hatten wir auf den Boden geworfen. Ein Schreibtisch, ein Bettgestell und eine Kommode waren die Überbleibsel meines vergangenen Lebens. Die Möbel waren der reinste Schrott. Kein Wunder, denn Geld durfte ich in all den Jahren nicht kosten. Wut stieg in mir hoch. Unbändige Wut. Ich schaute auf das durchgebrochene Brett, das als Lattenrost gedient hatte. »Wartet. Ich brauche nicht lange!«, rief ich den anderen zu. Ich rannte in den Keller und holte eine alte Axt. Mit der Axt in der Hand stand ich wie hypnotisiert vor diesem vergammelten Bettgestell. Plötzlich schoss mir das Blut in die Adern, und eine ungeheure Kraft machte sich in meinem Körper breit. Es war die Kraft, mit der man Bäume ausreißt, die Kraft eines unbändigen Lebenswillens und die Kraft, jedem Sturm zu trotzen. Meine Arme hoben sich, und ich schmetterte die Axt auf den Bettkasten und freute mich wie ein kleines Kind, als das Holz krachend splitterte und die Holzfetzen mir um die Ohren flogen. »Nichts! Nichts bleibt mehr übrig!«, schrie ich euphorisch und hämmerte wie verrückt auf dem Mobiliar herum. Binnen fünf Minuten war nur noch ein einziger Müllhaufen übrig geblieben. Tiefe Kerben in den Wänden und auf dem Teppichboden zeugten von fehlgeschlagenen Axthieben. Es war ein gespenstisches Bild. Ich war schweißgebadet und überglücklich. Die Euphorie hatte mich gepackt, und ich fühlte mich wie aufgeputscht.
Ich stellte die Axt neben den großen Trümmerhaufen und schloss die Tür. Als ich gerade die Haustür absperren wollte, musste ich doch noch einmal den Weg beschreiten und ging erneut durch den Flur und öffnete mein Zimmer. Es war wirklich ein schockierender Anblick. Ich nickte zufrieden. »Genau richtig«, sagte ich grinsend zu Anka und Dana, die vor Schadenfreude schier platzten.
»Was wird deine Mutter sagen, wenn sie nach Hause kommt?«, fragte Anka.
»Nichts mehr. Endlich einmal habe ich diese Frau sprachlos gemacht. Und sie wird mir nie wieder irgendetwas sagen«, antwortete ich. Ich verließ die Wohnung, verschloss die Haustür und warf den Schlüssel in den Briefkasten.
Ich wollte leben!
________________KAPITEL 8________________
Flucht und Freiheit
E
s war Anfang November, und ich hätte eigentlich genug damit zu tun gehabt, mein Abitur vorzubereiten. Nach der Schule ging ich zu Oma zum Mittagessen. Oma war in meine Pläne eingeweiht und hatte mir angeboten, das Essen und meine Wäsche zu übernehmen. Das hatte ich natürlich dankend angenommen. Sie machte sich Sorgen um meine Existenz, denn mit ihrer kleinen Rente hatte sie wenig Möglichkeiten, mich finanziell zu unterstützen.
»Christinchen«, sagte sie eines Mittags zu mir, »ich habe hier dreihundert Mark, dafür solltest du dir einen Telefonanschluss zulegen. Man weiß nie, was ist, und dann kannst du mich wenigstens anrufen, ja?«
Ich war Oma wirklich sehr dankbar. Vor kurzer Zeit hatte ich nämlich einen netten
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