Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
ständig und überall und ungefragt seine Meinung kundzutun. In seinen Augen war ich genauso ein verdorbenes Flittchen wie in den Augen meiner Mutter. Seine Taktik war für mich durchschaubar. Die Menschen, mit denen ich zusammenlebte, waren meine Gegner, und die letzten Monate vor meinem achtzehnten Geburtstag glichen einem Überlebenskampf. Ich hatte nur eine Chance: mich zu entziehen, dem täglichen Psychoterror gegenüber abzustumpfen und mein Leben in Freiheit vorzubereiten.
Nach außen hin schien ich meine Aufgaben weiterhin wahrzunehmen. Ich erledigte den Haushalt, ertrug die Beschimpfungen meiner Mutter und sparte das Geld vom Fitnesscenter. In der Schule begann ich akribisch genau auszurechnen, mit wie vielen Fehlstunden ich dennoch zum Abitur zugelassen werden würde. Diese Fehlstunden verbrachte ich mit meinen Freundinnen im Eiscafé und begann das erste Mal in meinem Leben, Kontakte zu anderen Männern zu knüpfen. Nachts schlich ich mich über den Garten nach draußen und traf mich mit meinen Freundinnen auf Partys und in Diskotheken. Ich genoss das Gefühl der Freiheit und spürte, wie sich die Lust am Leben in mir breitmachte. Männer machten mir Komplimente, und Männer umwarben mich. Ich feierte bis in die Morgenstunden und kehrte rechtzeitig nach Hause zurück, um zu duschen und das Frühstück vorzubereiten.
Im Juni 1983 feierte Jürgen seinen fünfundvierzigsten Geburtstag. Er gab im Partykeller seines Hauses ein großes Fest, und meine Mutter hielt eine (in meinen Ohren) ekelerregende Rede über ihren ach so noblen und charakterfesten Goldschatz Jürgen. Alle Gäste waren tief beeindruckt, und ich mimte die Kellnerin des Hauses. Die Gäste bestanden zu einem großen Teil aus betuchten Nachbarn aus der Wohngegend von Jürgens Haus. Ärzte, Unternehmer und Rechtsanwälte gaben sich die Türklinke in die Hand. Alles schien so perfekt zu sein. Im Laufe des Abends floss der Alkohol in Strömen, und Jürgen meinte unbedingt, ausgerechnet mit mir ein flottes Tänzchen aufs Parkett legen zu müssen. Der Mann widerte mich an, und da ich ihn seit Wochen nicht mehr hatte anfassen müssen, ergriff mich dieser Widerwille gegen ihn mit aller Macht. Plötzlich schaltete jemand das Licht an, und die Musik erstarb.
Meine Mutter stand mit wutverzerrtem Gesicht vor uns beiden, riss uns auseinander und keifte los: »Na, ihr zwei Turteltäubchen? Gehtʼs euch gut, jaaa?« Sie war völlig außer Kontrolle, und ich bekam wirklich Angst vor ihr. Ihr Blick war wirr und ihre Körperhaltung völlig angespannt. Es schien, als habe sich ein wichtiger Schalter in ihrem Kopf umgelegt.
Die Gäste starrten uns drei entsetzt an. Niemand sagte ein Wort. Noch bevor Jürgen sein säuselndes »Aber Gundis!« loswerden konnte, packte meine Mutter meinen Arm und schleuderte mich quer durch den Partykeller. Sie würde mich totschlagen vor versammelter Mannschaft, das war mir klar. »Geh doch zu deinem Jürgen«, tobte sie weiter. »Geh doch hin zu ihm, und vögel ihn. Na komm schon. Stell dich nicht so an!«
Wieder packte sie meinen Arm und zerrte mich zu Jürgen, der wie versteinert auf der Tanzfläche stand. Sie schubste mich gegen Jürgen und presste mein Becken an Jürgens Becken. »So sieht das schon richtig gut aus!«, schrie sie wie von Sinnen. »Los, los, los! Bumsen sollt ihr! Das könnt ihr doch sonst auch so gut!«
Jürgen erwachte aus seiner starren Haltung, packte meine Mutter an beiden Armen und zerrte sie ins Badezimmer. Ein heftiger Kampf entbrannte. Mit aller Kraft drückte Jürgen meine Mutter unter die Dusche und begann, die hysterisch schreiende Frau mit eiskaltem Wasser abzuduschen.
Ich konnte nicht mehr. Ich war völlig am Ende meiner Kräfte, und mir wurde übel. Ich flüchtete nach oben ins Wohnzimmer und versuchte verzweifelt, einen klaren Gedanken zu fassen. Wo sollte ich hin? Wo konnte ich hin? Das war alles so schrecklich peinlich. Die Gäste verließen, einer nach dem anderen, die Party. Jeder einzelne von ihnen sah mich von der Garderobe aus im Wohnzimmer sitzen. Nicht ein einziger dieser honorigen Gäste kam zu mir. Nicht ein einziger tröstete mich. ICH war schuldig. ICH war die Hure. ICH war der Grund für dieses Desaster.
Irgendwann bin ich eingeschlafen. Ich weiß beim besten Willen nicht mehr, wie dieser Abend endete. Ich hörte meine Mutter irgendwann nicht mehr, und ich sah Jürgen nicht mehr.
Meine Erinnerung beginnt beim nächsten Morgen, als meine Mutter versuchte, Jürgen zu
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