Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
Fingernägel zu polieren. Und Margot? Ja DIE hatte es natürlich NUR auf Jürgens Geld abgesehen, war ohnehin strohdoof und wäre ohne diesen fantastischen Mann niemals auf einen grünen Zweig gekommen. Dass Jürgen und Margot zwei Söhne hatten, die Margot zu erziehen hatte, und dass Margot sich ausschließlich allein um den großen Haushalt kümmerte, waren Gegebenheiten, die meine Mutter verächtlich zur Seite schob.
Jürgen und Margot gehörten zur wohlhabenden Bürgerschaft unserer Kleinstadt. Sie besaßen eine Eigentumswohnung in einem neu erbauten und damals als »chic« geltenden Hochhaus. Ihre Wohnung war auffallend teuer eingerichtet, und eine riesige Couchlandschaft aus cremefarbenem Leder war der Mittelpunkt des Wohnzimmers. Weiche chinesische Teppiche lagen groß und üppig auf dem Parkettboden, und überall funkelte und glitzerte es. Da standen kristallene Gläser und Karaffen in den Regalwänden, das Schlafzimmer war eine einzige Spiegellandschaft, und die Wasserhähne im Bad und dem Gäste-WC leuchteten goldfarben. Jürgen fuhr als Einziger in unserer Stadt einen vornehmen, bordeauxfarbenen Jaguar, und Margot kurvte mit einem wuchtigen Volvo durch die Straßen. Beide waren immer sehr elegant gekleidet: Margot war Stammkundin in der teuersten und elitärsten Boutique der Stadt und fiel mit ihrem extravagant-teuren Stil überall auf. Damals war die Gruppe Baccara populär, und Jürgen legte oft die Platte Sorry, Iʼm a lady auf und schwärmte vor seinen Söhnen, seiner Frau, meinen Eltern und mir, wie sehr »seine Margot« doch Ähnlichkeit mit einer der beiden Sängerinnen habe. Die Ehe schien völlig intakt zu sein.
Jürgen trug immer ganz fein aussehende Stoffhosen und superweiche Rollkragenpullover. Ich fasste diese Pullis gern an und ließ mich auch gern von Jürgen in den Arm nehmen.
»Das ist Kaschmir, eine ganz teure Wolle«, erklärte mir Jürgen mit seiner tiefen und ruhigen Stimme. »Kaschmir ist so teuer, weil die Kaschmirziege im Himalajagebirge wohnt und das Unterfell mit der Hand gezupft wird.«
Mit acht Jahren wollte ich am liebsten auch so einen weichen Pullover, und meinen ersten Schal aus Kaschmir schenkte mir Jürgen wenige Jahre später zu meinem zwölften Geburtstag. Außerdem roch Jürgen sehr gut und besaß unzählige Herrendüfte der erlesensten Marken. Alles an ihm erschien so unglaublich gepflegt und vornehm. Er trug den Schnauzer ganz gerade und korrekt gestutzt, das leicht graumelierte Haar modisch kurz, und er erzählte mir, dass er seine Haare selber schneiden würde, weil er das besser könnte als jeder Friseur.
Wow!, habe ich damals gedacht, gibt es irgendetwas, was dieser Mann nicht kann?
Wann immer ein Elektrogerät kaputtging, schleppten meine Eltern den Föhn oder den Toaster, die Super-8-Kamera oder den Projektor mit zu Jürgen und Margot. Jürgen saß dann in unendlicher Geduld bei Margot und meinen Eltern am Tisch in seinem hellbraunen Ledersessel und reparierte so ganz nebenbei irgendein Gerät. Genauso gab es kein Spielzeug, das Jürgen nicht wieder in Ordnung bringen konnte! Nicht nur uns Kinder, sondern bestimmt auch die Erwachsenen hat Jürgen mit seiner souveränen Art beeindruckt. Er fand für alles eine Lösung.
Im Gegensatz zu Jürgen und Margot besaßen meine Eltern lediglich einen alten Peugeot 404, der jeden Freitag von meiner Mutter und mir gewaschen werden musste und ausschließlich von meinem Vater gefahren wurde. Meine Mutter hatte am Steuer eines Autos nichts zu suchen. Es war Jürgen, der meine Mutter kurz vor ihrem dreißigsten Geburtstag überredete, den Führerschein zu machen. Ihr erstes eigenes Auto, ein grashüpfergrüner Renault mit Revolverschaltung, war sein Geschenk zur bestandenen Prüfung. Als meine Mutter ein knappes Jahr später anlässlich einer Vollbremsung mit dem gesamten Unterboden und den Pedalen auf dem Asphaltboden landete, stellte sich heraus, dass Jürgen in seiner unglaublichen Großzügigkeit wohl doch nicht so spendabel gewesen war. Beim Schrotthändler schaute meine Mutter das erste Mal auf den Kfz-Brief und musste feststellen, dass ihr Vehikel bereits stolze fünfzehn Jahre auf dem Buckel hatte. Jürgen wusste dies natürlich sofort und logisch zu begründen. So habe er doch extra ein altes Auto gekauft und alles neu machen lassen, damit meine Mutter keine Angst bekäme. Sicherlich wäre sie doch gehemmt gefahren, wenn sie einen Neuwagen lenken würde. Ich war zwar erst zwölf Jahre alt, aber diese Erklärung
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