Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
vor Abflug auf der Basis sein, uns als »anwesend« in einer Crew-Liste eintragen, das Gepäck im Keller verstauen und dann zum so genannten Briefing-Raum gehen. Dort lernte man den Rest der Crew kennen und wurde über die Anzahl der Fluggäste, der Sondermenüs, der VIPs (Vielflieger) und UMs (unaccompanied minors – Kinder ohne Begleitung Erwachsener) aufgeklärt. Die Cockpitbesatzung erläuterte dann die Flugroute und gab uns die Wetterinformationen durch. Bis der Flieger abhob, waren die meisten von uns schon seit vier Stunden zugange, und nach einem Flug wollte man von Land und Leuten auch noch etwas sehen.
Wir verbrachten die Tage am Pool, beim Shopping und bei einem Wüstenritt zu den Pyramiden und wohnten in einem wundervollen und luxuriösen Hotel, das im marmornen Foyer einen riesigen Wasserfall eingebaut hatte. Die Lufthansa war dafür bekannt, ihre Crews in den teuersten Hotels der Welt einzuquartieren, und die meisten von uns wussten das auch durchaus zu schätzen.
Für mich hatte nun tatsächlich ein neues Leben mit unzähligen Eindrücken begonnen, und es war das erste Mal, dass ich über sehr viel Geld verfügte. Eine Lufthansa-Stewardess verdiente 1987 mit Zulagen, Spesen und Bordverkaufsprovision locker ihre dreitausend Mark netto im Monat. Ich war einundzwanzig Jahre alt und hatte im Monat Fixkosten von ungefähr sechshundert Mark. Den Rest des Geldes haute ich regelmäßig auf den Kopf und genoss es, mit Kolleginnen in vornehmen Restaurants essen zu gehen, in den Shopping-Malls von Dubai, Abu Dhabi und Oman Einkaufstouren zu unternehmen, Safaris in Kenia zu buchen oder Ausritte in New York und Kanada erleben zu dürfen. So sparsam und gewissenhaft ich zuvor mit meinem Geld war, so wenig achtete ich nun darauf. Mein Lebenshunger und mein Nachholbedarf waren einfach viel zu groß.
Trotz allem Übermaß in den Jahren bei der Lufthansa habe ich es nie verlernt, mit einem Minimum an Geld zurechtzukommen. Wenn ich an diese Jahre zurückdenke, dann bin ich heilfroh, dass ich auf diese Zeit der völligen finanziellen Unbeschwertheit zurückblicken kann. Ich durfte ein solches Übermaß an Möglichkeiten in vollen Zügen auskosten, denn ich musste niemandem Rechenschaft ablegen.
Als ich einige Tage später Léon in Genf wiedersah, schien mein Glück perfekt zu sein. Ich sah ihn und war sofort wieder verliebt in ihn. Ihn zu vermissen, dazu hatte ich in den letzten Wochen ohnehin wenig Zeit gehabt. Wir verbrachten einige Tage bei seiner Familie und gingen viel am Lac dʼAnnecy spazieren. Wir besuchten in den Bergen kleine Käsebauern und kauften wunderbar schmeckende Käsesorten wie den Roblechon und den Tommes. Später fuhren wir mit dem Train Rapide nach Paris und waren zu Gast bei einem Fliegerkollegen von Léon. Als ich nach einer Woche wieder zurück nach Frankfurt am Main flog, hatten wir in Paris bereits eine kleine Wohnung am Place de la Nation angemietet. In Zukunft würde ich bei mehr als zwei zusammenhängend freien Tagen nach Paris fliegen und an meinen einzelnen freien Tagen zu meiner Großmutter fahren. Zur Ruhe kam ich ab sofort nicht mehr.
Die Monate verflogen im wahrsten Sinne des Wortes. Mein Leben bestand fortan aus Koffereinpacken und Kofferauspacken. Kaum in Frankfurt angekommen, räumte ich meine Sachen um und fuhr mit einem Leihwagen zu Oma. Zurück in Frankfurt, wurde der Koffer erneut umgepackt, und ich flog nach New York, Miami oder Tokio. Hatte ich nach langen Flugsequenzen zwei oder gar drei Tage frei, dann flog ich von Frankfurt aus direkt nach Paris und verbrachte die Tage mit Léon. Nach drei Monaten war ich so erschöpft, dass ich in jeder Lebenslage tief und fest einschlafen konnte. Durch die Zeitverschiebungen und die zum Teil bis zu zwölf Stunden dauernden Flüge war es normal, dass ich, in Paris irgendwann angekommen, zwischen sechsundzwanzig und zweiunddreißig Stunden am Stück auf den Beinen war. Am liebsten hätte ich in Paris einfach nur noch geschlafen, aber Léon entpuppte sich im Laufe unserer Beziehung als recht egozentrisch, und er wurde äußerst ungehalten, wenn ich es kaum schaffte, nach nur zwei Stunden Schlaf am Nachmittag aus dem Bett zu kommen. Da er noch keinen Job bei einer Airline gefunden hatte, lebten wir von meinem Geld. Auch dieser Umstand trug dazu bei, dass Léon häufiger cholerische Wutanfälle bekam und immer unzufriedener wurde. Ich hoffte, dass sich seine Launen mit einem Job irgendwann bessern würden.
Der Zustand meiner Großmutter
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