Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
sah, brachte sie nur ein »Och Gott, Christinchen!« zustande und begann sofort zu weinen.
»Omi!«, rief ich und nahm sie vorsichtig in den Arm.
»Pass auf«, sagte sie schluchzend, »da an der Seite ist dieser blöde Beutel.«
Oma war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Über ein Jahr war vergangen, seitdem ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Es tat so unendlich weh, meine geliebte Großmutter in dieser Verfassung vorzufinden. Ebenso schmerzte mich die Erkenntnis, dass ich sie wieder würde allein lassen müssen. Ich erfuhr, dass Oma schon seit Jahren Probleme mit der Verdauung hatte, und der Missbrauch von Abführmitteln hatte die Darmwände zudem gereizt. Meine Mutter schien sich nach Kräften um das Wohlergehen meiner Oma zu kümmern, aber Oma litt unter dem Verlust der menschlichen Wärme, die uns beide verband. Ich verstand sie zu gut. Meine Mutter war, im Gegensatz zu mir, ein wahrer Eisschrank oder eher noch ein ganzer Eiskeller, was Emotionen anbelangte.
Nach nur zwei Tagen musste ich mich wieder von Oma verabschieden. In einem kurzen und kühlen Gespräch mit meiner Mutter auf dem Krankenhausflur hatte ich ihr in aller Deutlichkeit gedroht, dass ich mich gänzlich vergessen würde, wenn sie Oma in ein Pflegeheim abschöbe. So, wie es nun geplant war, bekäme Oma vom Krankenhaus ein Spezialbett geliehen und könnte in ihrer Wohnung bleiben. Eine Pflegekraft und meine Mutter würden die Versorgung sichern. Mir war alles andere als wohl dabei, aber ich musste mich um meine Zukunft kümmern. Das Vorstellungsgespräch bei der Lufthansa war mir unglaublich wichtig, und ich traute meinen Ohren kaum, als man mir am Ende des anstrengenden Tages mitteilte, dass ich im Dezember 1986 den achtwöchigen Lehrgang zur Flugbegleiterin beginnen sollte.
Léon überredete mich, für die bis dahin verbleibenden Wochen zurück nach Afrika zu fliegen. Als ich die Entscheidung gefällt hatte, kollidierten zwei Gefühle in mir: Einerseits verspürte ich eine ungeheure Erleichterung, nicht in meiner Heimatstadt bleiben zu müssen und nicht mit dem Leid meiner Großmutter konfrontiert zu werden. Andererseits schämte ich mich maßlos für meinen Egoismus und für meine Feigheit. Ich hatte Oma zum zweiten Mal im Stich gelassen, und das zu einem Zeitpunkt, an dem sie mich bitter gebraucht hätte. Diese Schuldgefühle brachen mir viele Jahre später fast das Genick.
In Afrika angekommen blieben mir genau dreieinhalb Monate bis zur Abreise nach Frankfurt. Götz und Claudia organisierten von Mali aus ein Gästezimmer für mich. Ein enger Freund der beiden besaß ein großes Haus in der Nähe von Frankfurt, in dem ich die acht Wochen der Ausbildung umsonst wohnen durfte. Die Gedanken an meine Großmutter versuchte ich auf der Baustelle weitestgehend zu verdrängen. Ich schrieb jedoch unzählige Briefe und beschrieb haarklein in allen Details, was ich erlebte, fühlte und dachte. Oma dankte es mir, und innerhalb der eineinviertel Jahre, die ich insgesamt auf der Baustelle in Afrika war, erhielt ich von ihr vierundzwanzig Briefe. Ich war eine fleißige und sehr ausführliche Schreiberin, und es ist nicht übertrieben, wenn ich das Verhältnis der Anzahl der Briefe auf drei zu eins schätze. Auf drei seitenlange Briefe von mir kam je ein Brief von Oma, der das Schreiben lange nicht so leichtfiel wie mir. Die Briefe gab ich immer den Leuten mit, die gerade nach Deutschland flogen, und die warfen die Briefe noch am Flughafen in den Postkasten. So konnte es sein, dass Oma innerhalb eines Tages vier, fünf Briefe erhielt, die ich im Laufe von zwei Wochen geschrieben und gesammelt hatte.
Die schätzungsweise über sechzig Briefe inklusive der unzähligen Fotos, die ich fast immer dazulegte, sind nie wieder aufgetaucht. Bis zum heutigen Tag habe ich nicht eine einzige Zeile noch mal lesen dürfen, und über zwanzig Jahre sind seither vergangen. Meine Mutter behauptete steif und fest, niemals auch nur einen einzigen Brief, geschweige denn auch nur ein einziges Foto gefunden zu haben.
Mir fehlen diese Briefe sehr, ebenso wie die vielen Fotos. Sie waren Ersatz für mein Tagebuchschreiben. Diese unglaubliche Lüge meiner Mutter sollte nicht die einzige bleiben, und sie war schließlich auch nicht die erste. Ihre unglaubliche Boshaftigkeit kannte wirklich keine Grenzen. Was mir bleibt, ist die Erinnerung an eine unvergesslich schöne und innige Liebe, die meine Oma und mich verband. Einen Brief von mir, ihrer einzigen Enkelin,
Weitere Kostenlose Bücher