Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
wegzuschmeißen, hätte Omi niemals über ihr Herz gebracht. Nur über ihre Leiche hinweg konnte es geschehen sein, dass meine Erinnerungen vernichtet wurden.
Ich hatte in den Jahren in Mali und Frankfurt stets das Gefühl, dass Oma durch mich hindurch lebte. Sie schien es zu genießen, dass ihre Enkelin Dinge tat, die sie selbst nie gewagt hatte zu tun. Meine Briefe waren von detaillierten und sehr intimen Schilderungen geprägt, und die Ausführlichkeit der Darstellung ermöglichte es meiner Großmutter, meine Erlebnisse miterleben zu dürfen. Insbesondere später, als ich selbst Mutter wurde und in die größte Krise meines Lebens geriet, wären mir meine Briefe an meine Oma eine wertvolle Hilfe gewesen. Ich glaube, dass man nach einer solchen Liebe, gleichgültig ob zu einem Mann oder zu einer Frau, immer wieder einmal das Bedürfnis hat, die eigenen Gefühle und Gedanken nachzulesen. Es beruhigt und tröstet ungemein, wenn man in den eigenen Worten diese Liebe noch einmal Revue passieren lassen darf.
Meine Briefe enthielten Worte, die nur und ausschließlich für meine Oma bestimmt waren. Die Vorstellung, dass meine Mutter diese intime Grenze überschritten haben könnte und irgendwo im Haus meiner Großmutter, das sie nun bewohnt, einen wichtigen Teil meines Lebens eiskalt unter Verschluss hält, diese Vorstellung ist schlimmer als die von ihr exerzierte »Riechprobe« während meiner Kindheitsjahre. Damit verletzt sie bis heute nachhaltig eine Beziehung zu dem damals einzigen Menschen, der mich so liebte, wie der liebe Gott mich geschaffen hatte, der mich so liebte, weil ich einfach da war, einfach aufgrund meiner bloßen Existenz. Meine Mutter hat eine solche Liebe nie erlebt. Das ist sicherlich traurig für sie, aber es war kein unumgängliches Schicksal. Mitte der achtziger Jahre war es insbesondere die Berufsgruppe der Lehrer, die das damals noch exotisch anmutende Angebot der Gesprächstherapie oder der tiefenpsychologischen Analyse nutzten und die aus dem Boden sprießenden Praxen der Psychotherapeuten förmlich einrannten. Als Pädagogin und Lehrerin waren ihr alle Möglichkeiten gegeben, ihr Leben von Grund auf zu ändern. Manchmal ist aber auch das eine Frage des Wollens. Ein Arzt hat mir später einmal sehr weise Worte mit auf den Weg gegeben: »Es ist keine Schande, in eine Sackgasse zu geraten. Aber es ist eine Schande, es zu erkennen und nichts daran zu ändern!«
Als ich im Dezember 1986 nach einer bombastischen und feuchtfröhlichen Abschiedsparty mit über hundertfünfzig Gästen Afrika endgültig Lebewohl sagen musste, herrschten in Frankfurt am Main Temperaturen von unter dem Gefrierpunkt. In Mali waren tagsüber circa vierzig Grad im Schatten, und der »Kulturschock« war erheblich. Claudias Bekannter und seine Freundin holten mich am Flughafen ab. Beide waren offene und unkomplizierte junge Leute, und sie waren mir bei meinem neuen Start in der fremden Großstadt unglaublich behilflich.
Die Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Lufthansa-Basis dauerte anderthalb Stunden. Mein Tag begann deshalb um vier Uhr dreißig morgens und dauerte locker bis Mitternacht. Jedes Wochenende besorgte ich mir bei Avis am Flughafen einen Mietwagen und fuhr die 250 Kilometer zu meiner Oma. Weihnachten und Silvester verbrachte ich allein mit ihr in ihrer Wohnung, und für Silvester hatte ich uns eine Flasche Sekt besorgt. Oma zierte sich, und ich überredete sie, endlich einmal in ihrem Leben ein wenig »unvernünftig« zu sein. Es war uns beiden vollkommen bewusst, dass sie sterben würde.
Oma sagte: »Warum eigentlich nicht?«, und schlürfte den Sekt. Dabei grinste sie verschmitzt, und mit jedem Schlückchen mehr kicherte sie ausgelassen und erzählte puren Unsinn. Wir alberten und lachten und prosteten uns um Mitternacht beschwipst zu. Wünsche für das Jahr 1987 sprachen wir nicht aus. Das wagte keiner von uns. Im Gegenteil. Wir ahnten, dass es unser letzter gemeinsamer Jahreswechsel sein sollte.
Am dritten Januar erhielt ich einen Anruf von meiner Mutter.
»Deine Großmutter hat einen Schlaganfall erlitten. Sie ist jetzt bettlägerig. Du könntest dich gefälligst mal nützlich machen und deinen Arsch hierherbewegen!«
Was sollte ich machen? Ich konnte nur an den Wochenenden zu Oma fahren und sie betreuen. Wir sprachen viel von meiner Ausbildung und von meiner Zukunft, und ich bemühte mich, alles Erlebte möglichst plastisch und in allen Einzelheiten zu erzählen. Oma lag in
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