Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
bereitete mir Sorgen. Sie wurde immer schwächer und konnte das Bett gar nicht mehr verlassen. Jede Bewegung bereitete ihr Schmerzen, und ihr Hausarzt hatte mir erklärt, dass sich die Metastasen im ganzen Körper verteilt hätten. Insbesondere sei das Rückenmark betroffen. An einem Wochenende im Juni eskalierte die Situation. Ich hatte meine Mutter an einem Freitagabend abgelöst, und ich sah ihr an, dass sie körperlich am Limit war. Sie war beängstigend dünn geworden. Unser Verhältnis war kühl, distanziert, aber auf Waffenstillstand ausgelegt. In der Nacht zu Sonntag dann wachte ich auf, weil Oma vor Schmerzen stöhnte. In der Frühe rief sie mich zu sich. Sie stützte sich mit ihren letzten Kräften auf beiden Händen ab, weil ihr das Liegen zu große Schmerzen bereitete.
»Christinchen«, quälte sie sich zu sagen, »nimm mir bitte den Siegelring ab.«
Seufzend legte sie sich auf die Seite, und ich nahm den Ring ab. Omas Siegelring war ihr stets heilig gewesen. Ein Verehrer, der Goldschmied war, hatte ihr diesen Ring einst gefertigt. Es hatte ihm nichts genutzt, denn Oma hatte sich für ihren späteren Mann Willi, einen bekannten Künstler und Maler der Stadt, entschieden. Den Ring jedoch liebte sie weiterhin.
»Ich möchte, dass du ihn nimmst, Christine. Sonst ist er weg, noch bevor du gucken kannst. Merke dir eins: Die Oma hat für dich vorgesorgt! Merke dir das!« Wieder fing Oma laut an zu stöhnen. »Das war nicht mein Leben«, entfuhr es ihr plötzlich. Jetzt begann sie vor Schmerzen aufzuschreien. Ihre Schmerzensschreie waren so laut, dass man sie auf der Straße hören konnte.
Ich rotierte. Ich wusste nicht mehr weiter.
Von meiner Mutter bekam ich am Telefon den Ratschlag: »Da liegt irgendwo eine Packung Dolomo rum. Davon muss sie eine Tablette nehmen!«
Ich nahm von den Tabletten, hob Omas Kopf an und rief panisch: »Oma! Schluck die Tablette! Sofort!«
Oma schluckte. Aber sie schrie weiter und weiter. Ich gab ihr noch eine Tablette, aber auch diese zeigte keine Wirkung.
»Oh mein Gott. Oh mein Gott. Warum hast du mich verlassen?« Großmutter rief dies mehrere Male, und ich fühlte mich wie in einem Horror-Szenario.
Ich telefonierte nach dem Hausarzt und konnte vor Tränen kaum sprechen.
»Ich komme sofort«, sagte der Arzt, und binnen zehn Minuten war er auch schon da.
Mit geübten Fingern und in Windeseile zog er eine Spritze auf und verabreichte Oma den Inhalt.
Plötzlich war Ruhe. Omas Gesicht entspannte sich, und sie schlief ein.
»Ich habe ihr Morphium gespritzt«, erklärte der Arzt. »Mit Tabletten kommen wir jetzt nicht mehr weiter. In diesem Stadium sind die Schmerzen nicht mehr lange zu ertragen. Hoffentlich hat es bald ein Ende für die Gute. Ich kenne sie schon seit vierzig Jahren. Sie ist eine gute Seele. Glauben Sie mir, mein Mädchen. Ich tue, was ich kann. Rufen Sie an, wenn es wieder nicht mehr geht.«
Er drückte mir großväterlich die Schulter und ging.
Als meine Mutter am Nachmittag kam, schilderte ich die Situation. Ich setzte mich noch mal zu Oma ans Bett und nahm ihre faltige, knöcherne Hand in meine jungen Hände. »Ich muss fort, Omi. Ich muss zurück nach Frankfurt. Ich habe einen Flug nach Vancouver. Freitagnachmittag komme ich wieder. Hörst du? Freitagnachmittag! Warte auf mich, ja? Versprich mir, dass du auf mich wartest!«
Ein unmerklicher Händedruck signalisierte mir, dass meine Worte angekommen waren. Schweren Herzens fuhr ich nach Frankfurt.
Als ich Freitagmorgen wieder landete, rief ich noch vom Flughafen aus meine Mutter an. Es war erst sechs Uhr morgens, aber mir war das völlig gleichgültig.
»Sie stirbt, Christine. Mach voran«, sagte meine Mutter mit müder Stimme.
Ich war bereits weit über zwanzig Stunden auf den Beinen, aber angesichts dieser Worte war ich hellwach. Wieder mietete ich bei Avis ein Auto und hämmerte wie eine Vollidiotin über die Autobahn. Es war Mittag, als ich ankam. Ein lautes rasselndes Atmen war aus dem Zimmer zu hören. Es war ein Geräusch, das durch Mark und Bein ging, und wer es einmal gehört hat, wird es sein Leben lang nicht wieder vergessen. Meine Mutter und Jürgen saßen in der Küche. Omas Schwester verließ das Zimmer und nickte mir mit Tränen in den Augen zu.
»Ich binʼs, Oma. Dein Christinchen. Ich habe mich beeilt und bin, so schnell ich konnte, zu dir gefahren. Omi! Hörst du mich?«
Wieder erhielt ich als Antwort einen Händedruck. Was sollte ich sagen? Was sollte ich erzählen? Was tut
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