Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
einer Art Hypnose. Was tat ich hier? Oma war tot!
»Hallo! Ist da jemand?«, fragte die fremde Frauenstimme ungeduldig.
»Entschuldigung, ich habe mich verwählt«, antwortete ich und legte den Hörer völlig fassungslos auf die Gabel zurück. Oma war schon seit etlichen Wochen tot. Und ich hatte nichts Besseres zu tun, als sie anrufen zu wollen? War das ein Zeichen dafür, dass ich verrückt werden würde?
Ich legte mich aufs Bett und wiederholte die Worte »Oma ist tot. Oma ist tot. Oma ist tot.« Warum konnte ich nicht weinen? Wenn Oma tot war, hätte ich doch weinen müssen, oder? Ich liebte sie doch. Ob Oma wusste, wie sehr ich sie liebte? Bestimmt nicht. Ich erinnerte mich an die Situation, als ich mit dem Küchenmesser vor ihr stand. Sah so Liebe aus? Hatte sie SO merken können, dass ich sie liebte? Ich hätte es ihr sagen sollen, schoss es mir durch den Kopf. Viel zu selten hatte ich gesagt, dass sie mir die Welt bedeutete. Ihr nie richtig zu verstehen gegeben, dass eigentlich sie meine wahre Mutter war. Mein Gott, wie undankbar von mir.
Stundenlang lag ich auf meinem Bett und grübelte. Ich war voller Selbstvorwürfe, und zu guter Letzt wurde mir bewusst, dass ich tatsächlich Erleichterung gespürt hatte, als sie nicht mehr atmete. Hatte ICH diese Entscheidung getroffen? Wollte ICH, dass sie stirbt? Hatte ICH dem Arzt nicht irgendwie gesagt, dass er Omas Leben beenden sollte? Zu meinen Selbstvorwürfen kamen Schuldgefühle hinzu. Es waren die einzigen Gefühle, die Platz nehmen durften in dem großen Loch, das mein Herz ausfüllte und es zu sprengen drohte.
Die Wochen vergingen. Es war mittlerweile Winter geworden, und die Familie von Léon stand Kopf, weil wir im Frühling heiraten wollten. Mein Leben bestand aus einer ständigen Hin- und Herpendelei zwischen New York – Frankfurt am Main – Paris – Frankfurt am Main – Dubai und so weiter. Die gemeinsame Zeit mit Léon war anstrengend geworden. Wann immer er konnte, holte mich Léon mit dem Auto vom Flughafen Charles de Gaulle ab, und wann immer er konnte, erlitt er auf der stets völlig verstopften périphérique einen seiner berüchtigten Tobsuchtsanfälle. Ich spürte förmlich, wie sich der Mann auflud, um dann gleich einem Vulkan plötzlich mit der Faust auf dem Lenkrad herumzuhämmern.
» Quelle merde! «, schrie er dann wie von Sinnen. » Putain bordelle de merde! « Sein Gesicht war dann blutrot angelaufen, und das Beste in diesen Situationen war, mucksmäuschenstill zu sein und zu beten, dass es bald vorbei war. Ein einziges Wort von mir genügte, und Léons Zorn richtete sich gegen mich.
Ich kann mich erinnern, dass ich eines Tages die Nase restlos voll hatte von seinen cholerischen Anfällen. Der Nachtflug von Vancouver war furchtbar anstrengend gewesen. Wir hatten Full House, viele Kleinkinder an Bord, die irgendwie immer schrien, abstruse Beschwerden wie »Können Sie bitte der Frau neben mir mal sagen, dass ich das ekelig finde, wenn sie ihr Baby hier auf dem Sitz aus den vollgeschissenen Windeln wickelt?« und Passagiere vom Typ »Der Rotwein ist zu warm, der Weißwein zu kalt, haben Sie etwa keinen Champagner in der Economyklasse?«. Außerdem flog ich immer Stand-by nach Paris und hatte alleine schon zwei Stunden gebraucht, um mir am Crew-Schalter auf der Basis ein Personalticket zu kaufen, und weitere zwei Stunden benötigt, um einen Platz in einem Flieger nach Paris zu ergattern. Air France und Lufthansa lagen in zwei unterschiedlichen Terminals, und als klar war, dass ich bei Lufthansa in der völlig überbuchten Maschine keinen Platz finden würde, hetzte ich mit meinem Gepäck zum Air-France-Terminal. Die Besatzung hatte Mitleid mit mir, und im Cockpit durfte ich dann auf dem Notsitz mitfliegen. Ich war heilfroh, endlich in Paris angekommen zu sein, und hatte nach über dreißig Stunden das verständliche Bedürfnis, in ein Bett zu fallen.
Im Auto schon fielen mir fast die Augen zu. Die périphérique war wie immer dicht. Als Léon plötzlich wieder lostobte, platzte mir zum ersten Mal der Kragen.
» Ça suffit! «, schrie ich ihn an, und da wir aufgrund des Staus ohnehin anhalten mussten, stieg ich aus, ging in meiner Lufthansa-Uniform zum Kofferraum, wuchtete mein Gepäck heraus und stapfte directement zur Leitplanke. Léon rannte mir hinterher und schrie mich an, was ich denn da machen würde, ich sei ja nun völlig übergeschnappt.
Für die restlichen Autofahrer waren wir, das hysterisch streitende Pärchen, eine
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