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Ein fliehendes Pferd

Ein fliehendes Pferd

Titel: Ein fliehendes Pferd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser , Helmuth Kiesel
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plötzlich wichtiger geworden als Byzanz und Ravenna. Klaus sei inzwischen so in die Gegend vernarrt, daß er ein großes Bodenseebuch plane. Titel: Laß Europa aus dir trinken.
    Klaus Buch sagte, mit dem Schwindel da drüben sollte man auch einmal aufräumen. Er zeigte auf die Unteruhldinger Pfahlbauten, an denen man vorbeisegelte. Wieso Schwindel, fragte Helmut. Er glaube, im Prospekt gelesen zu haben, daß sich diese Pfahlbauten in schöner Offenheit zu ihrem Baujahr 1929 oder 30 bekennten. Der Schwindel ist, sagte Klaus, daß dort überhaupt nie Pfahlbauten standen; diese nachgemachten Pfahlbauten täten aber so, als seien da mal welche gewesen. Ob er sicher wisse, daß an dieser oder an einer benachbarten Stelle, etwa vor Goldbach oder Süßenmühle, niemals Pfahlbauten gestanden hätten, fragte Helmut. Überhaupt nie und nirgends am oder im Bodensee habe es Pfahlbauten gegeben. Helmut sagte herzlich: Lieber Klaus Buch, in der Steinzeit gab es hier keine Pfahlbauten? Die keltische Urbevölkerung wohnte nicht vorzüglich in Pfahlbauten. Hätten die wilden Alemannen die nicht alle sofort weggeputzt? Helmut hatte keine Ahnung. Aber Klaus Buchs Ton reizte ihn zum Widerspruch. Ja, ja, jaaa, rief Klaus Buch, genau so möchte es der Schwindler, der das alles erfunden hat, und dafür schon vor vierzig Jahren zum Professor ernannt worden ist und sich dann ins Fäustchen lachte, weil er nämlich durch seine plumpen und deshalb erfolgreichen Erfindungen sicher längst Millionär war. Bitte, aus mir spricht der reine Neid, das gebe ich zu. Wenn ich zu etwas Lust hätte, dann wäre es ein Schwindel, der Hand und Fuß hat, der es gewissermaßen zu wirklichem Leben bringt. Das hast du doch geschafft, sagte, lachend, Hel. Die fünfundsiebzigtausend Leute, die nach deinen Büchern essen, sind doch ziemlich real. Er schaute Hel einen Augenblick lang entsetzt an – seine Zunge arbeitete von innen gegen die Oberlippe und wulstete die Oberlippe, als halte die sie gefangen –, dann lachte er lauter als Hel gelacht hatte. Dann sagte er, das komme davon, daß man so ein rohes junges Ding heirate. Seine erste Frau hätte nie so instinktlos sein können, eine ironische Bemerkung, die er über sich selbst mache, real zu nehmen und auch noch gegen ihn anzuwenden. Herta machte viele Fehler, aber den nicht. Nie. Sie habe nur leider überhaupt keine Entwicklung gehabt und habe deswegen auch ihm keine gegönnt, deshalb habe er sich von ihr trennen müssen, wenn er nicht habe eingehen wollen wie eine Pflanze in einem zu kleinen Topf. Diese Erklärungen richtete Klaus Buch an Sabine. Dann sagte er in einem furchtbar ernsten, geradezu hoffnungslosen Ton zu Hel: Du magst mich nicht mehr, gell? Sie lachte ihn aus, beugte sich zu ihm hinüber und küßte ihn. Er hatte rasch seinen Kopf so gedreht, daß ihr Kuß seinen Mund traf. Danach leckte er seine Lippen um die Lippen herum, damit auch gar nichts von Hels Kuß verlorengehe. Helmut hätte am liebsten nur noch Hel angeschaut. Er mußte vorsichtig an ihr vorbeischauen, weil die anderen sonst gesehen hätten, wie wenig er sich an diesem Mädchen sattsehen konnte. Aber in diesem Vorbeischauen war er ja Experte.
    Seine Füße fühlten sich immer noch kalt an, obwohl sie jetzt in der Sonne lagen. Eigentlich nicht die ganzen Füße. Nur die Fersen. Aber die waren so kalt, als lägen sie im Schnee. Er hätte sich bewegen müssen. Er und Sabine saßen da wie ein Konditorehepaar, das sich zur Feier der Goldenen Hochzeit zu einer viel zu sportlichen Bootsfahrt hatte einladen lassen. Sie sahen sicher furchtbar komisch aus, auf kleinen Kissen auf dem Boden sitzend, die bloßen Füße von sich gestreckt. Die zerschundenen Zehen. Die wüst gerötete Haut.
    Die Trennung von den Kindern habe ihm anfangs schier die Leber zerquetscht, sagte Klaus Buch und reckte sein Gesicht in den Wind und kniff die Augen zusammen, daß die goldenen Wimpern sich abenteuerlich berührten. Seine Frau, eine fanatische Kleinbürgerin, habe die Kinder so gegen ihn aufgehetzt, daß die Kinder jeden Kontakt mit ihm verweigerten. Zum Glück denke Hel da wie er: bloß keine Kinder. Zu bumsen, bloß zur Erzeugung von Kindern, ist doch der Inbegriff des Spießigen, ist es nicht so? Er sei sicher, daß Helmut, der schon in seiner Jugend ein Meister der Bizarrerie gewesen sei, eine schön düstere und reich ritualisierte Bumskultur entwickelt habe. Zum Glück sei man so weit, daß heute jeder nach seiner Façon bumsen könne. Hel und er, zum

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