Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein fliehendes Pferd

Ein fliehendes Pferd

Titel: Ein fliehendes Pferd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser , Helmuth Kiesel
Vom Netzwerk:
dieser Produktionen mehr möglich. Es waren Präsentationsprodukte. Es drückte sich darin ein Bedürfnis aus, keine Realität. Sie wollte etwas Beeindruckendes über ihren Mann sagen. Vielleicht wollte sie ihm etwas mitteilen.
    Es stellte sich heraus, daß Klaus Buch nach Helmuts Verhältnis zur Arbeit gefragt hatte, weil er gern erzählte, wie er und Hel über Arbeit dachten. Sie arbeiteten so wenig als möglich, sagte er. Stimmt’s, fragte er. Sie sagte: Ja, zum Glück brauchen wir, um uns wohlzufühlen, keine Arbeit. Das klang wie gelernt. Klaus Buch sagte, das Leben sei zu kurz, als daß man es mit Arbeit vergeuden dürfe. Sie sagte, ihn jetzt offen und vielleicht schon kritisch zitierend – oder hätte es Helmut gern so gehabt? –: Nur Leute, die erotisch nicht völlig da sind, brauchen Arbeit. Klaus löste sie jetzt endgültig ab: Arbeit sei ein Ersatz für Erotik. Sie sei auch die Vernichtung des Erotischen. Das Erotische, ernst genommen, sei seinerseits die Vernichtung des Arbeitswillens. Wer leben wolle, dürfe sich nicht an die Arbeit verlieren. Die Arbeit mache unfähig zur Liebe. Stimmt’s? Oder magst du mich nicht mehr?
    Sie küßte ihn und sagte: Er redet ein bißchen viel darüber. Das ist aber sein einziger Fehler.
Heißt das, sonst bin ich ganz gut, sagte er unersättlich.
Sie lachte und sagte: Es geht.
Das gibst du zu, sagte er hartnäckig.
Ja, das gebe ich zu, sagte sie und lachte und küßte.
Du bist achtzehn Jahre jünger als ich. Hast du je zu klagen gehabt, fragte er unerbittlich.
Sie wollte ihm den Mund zuhalten.
Ich meine das ernst, sagte er.
Ich auch, sagte sie.
Du magst mich nicht mehr, gell, sagte er.
Er muß immer darüber reden, sagte sie, ohne ihren Mann geküßt zu haben, versteht ihr das?
Diesen Formulierzwang find ich nicht so gut. Aber das ist sicher bloß Neid, weil ich’s nicht so gut kann.
Du magst mich nicht mehr, gell, sagte er.
    Jetzt küßte sie ihn. Dann tranken beide von ihrem Mineralwasser. Beide schienen zum ersten Mal unter Helmuts Zigarren- und Sabines Zigarettenrauch zu leiden. Wie am Abend zuvor, fiel es Helmut jetzt wieder schwer, Wein und Rauch zu genießen. Er trank rasch. Er wollte möglichst rasch betrunken sein. Sollte er sich eingestehen, daß er diese Hel liebe? Was hätte er davon? Und war es denn so? War sie ihm nicht völlig gleichgültig?
    Klaus Buch fing plötzlich an, von dem 90. Geburtstag seines Vaters zu erzählen, den sie gerade gefeiert hatten. Sie hatten ihn in seinem vornehmen Altersheim in Degerloch abgeholt. Er sei erstaunlich kräftig und erstaunlich schwach gewesen. Aber voll da. Habe sich für alles interessiert. Name des Bundeskanzlers, des Bundespräsidenten, sogar des Präsidenten des Bundestags, alles gewußt … Helmut haßte Berichte über Greise. Macht zwar in die Hose, aber das Große Einmaleins bringt er! Wahrscheinlich wollte Klaus Buch nur demonstrieren, daß er noch einmal 45 Jahre vor sich habe, die zählten. Helene sagte: Meine Mutter ist einundsiebzig und genießt das Leben noch ohne Abstrich. Abstrich, dachte Helmut und schauderte ein bißchen. Jedes Jahr Reisen nach Afrika, Persien, sagte Helene. Nirgends hat sie sich, hat sie neulich geschrieben, so wohl gefühlt wie in Bali. Heißt es nicht, dachte Helmut, auf Bali? Wo sind eure Eltern?
    Helmut senkte den Daumen steil nach unten. Klaus sagte: Zeig doch mal die Fotos. Helene sagte: Das interessiert doch Halms nicht. Zeig die Fotos, Mensch. Etwas Interessanteres als Fotos von alten Leuten gibt es nicht.
Helmut sagte, er möchte nicht älter als siebzig werden.
    Er fand diesen Satz genau so verlogen wie wahr. Also unsinnig. Aber war nicht alles, was er hier sagen konnte, unsinnig? Nur was Hel und Klaus sagten, hatte wirklich einen Sinn. Sie wollten alt werden. Sie hatten Aussicht, alt zu werden. Sie freuten sich darauf, alt werden zu können. Sie taten alles dazu, alt zu werden. Sie hatten die Kraft dazu. Sie dachten so, daß sie es gesund ertragen würden, lange zu leben. Und wer nicht so denkt, der redet Unsinn. Das einzig Sinnvolle, das es überhaupt gibt, ist, lange zu leben. Wer länger lebt als ein anderer, ist erfolgreicher als der. Je länger du lebst als ein anderer, desto größer der Sieg über den. Helmut wußte nicht, ob die Buchs genau das zu ihm sagen wollten, aber so verstand er ihre einander überbietenden Schilderungen siebzigster und neunzigster Geburtstage. Fahrten hatten sie mit ihren Jubilaren gemacht. Blut- und Leberwurst gegessen auf der Alb. Ins

Weitere Kostenlose Bücher