Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
das, was er ohnehin geahnt hatte. Die Wohnung war leer. Verlassen. Krauss besaß die Gabe, sich in seine Gegner hineinzuversetzen. So war er ihnen stets einen Schritt voraus. Hansen trat wütend gegen einen Küchenstuhl, der quer durch den Raum segelte.
»Das sollten Sie sich ansehen«, sagte einer der Männer. AmEnde des Flurs stand ein Schrank. Durch die offene Tür blickte Hansen in eine kleine Kammer. Die Rückwand des Schrankes war ausgesägt, durch sie hindurch ging es in das Zimmer. Hansen vermutete, dass dies mal ein größerer Abstellraum gewesen war. An einer Wand befand sich ein Krankenbett. Hier war Krauss gesund gepflegt worden. Und vor kurzem Oda. Es stimmte also. Straubinger hatte nicht gelogen. Er war es gewesen, der den schwerverletzten Krauss zu den Weinbergs gebracht hatte. Hansen ging zurück in den Flur, direkt auf den Verräter zu.
»Wo sind sie hin?«, fragte er, mühsam seinen Ärger unterdrückend.
»Ich weiß es nicht«, entgegnete Straubinger eingeschüchtert.
Hansen fluchte. Es war mittlerweile fünfzehn Uhr. Krauss hatte viele Stunden Vorsprung. Ohne Anhaltspunkte würde er nicht so leicht aufzutreiben sein. Er hieb Straubinger die Waffe über den Schädel. Der ehemalige Stratege der »Söhne Odins« stürzte mit einem Schmerzensschrei auf die Knie.
»Rede!«, raunzte ihn Hansen an.
»Ich weiß es nicht«, jammerte Straubinger. »Wirklich nicht. Er hat mir nichts davon gesagt, dass er verschwinden will. Wahrscheinlich ahnte er, dass so etwas passieren würde.«
Natürlich hatte er es geahnt, dachte Hansen. Dieser Brudermörder war gerissen.
»Ich brauche einen Hinweis.«
»Es tut mir leid. Ich habe sie gestern von einer Hütte in irgendwelchen Wäldern sprechen hören, mehr aber auch nicht. Das ist alles.«
Einer Hütte in den Wäldern? Berlin war von Wald umgeben. Er benötigte präzisere Angaben. Hansen spürte, dass er sie von Straubinger nicht bekommen würde. Dessen Angst erregte ihn mindestens genauso, wie sie ihn abstieß. Zügeledich, maßregelte Hansen sich, aber sein Körper gierte nach einem Machtbeweis. Er richtete die Mauser auf den Kopf des Mannes, dem er diese Sauerei zu verdanken hatte.
»Du hast noch eine Chance. Überleg dir, was du sagst.«
Straubinger weinte. Er ließ die Arme hängen.
»Ich weiß nicht, wo sie sind.«
Hansen drückte ab. Der Schuss dröhnte durch die Wohnung. Straubinger sackte nach hinten weg und knallte auf den Boden. Niemand sprach ein Wort. Alle blickten auf den toten »Sohn Odins«, in dessen Gesichtszügen das Entsetzen seiner letzten Sekunden geschrieben stand. Unter Straubingers Kopf breitete sich eine Blutlache aus. Hansen sah sich herausfordernd um.
»Straubinger war ein Verräter«, sagte er. »Und jeder Verräter bekommt bei mir das, was er verdient.«
28.
P OTSDAM
17. Januar 1940
Odas Jagdhütte
Über Nacht war Schnee gefallen. Oda lehnte am Fensterrahmen, versunken in den Anblick der makellos weißen Lichtung.
»Es ist wunderschön«, sagte sie.
»Und es hat unsere Spuren getilgt«, fügte Krauss hinzu.
Er saß auf dem Sofa und hatte die Füße auf den flachen Tisch davor gelegt, direkt neben eine Tasse mit dampfendem Tee. Für die Schönheit der Natur hat er kein Auge, dachte Oda. Er betrachtete die Welt nur unter dem Aspekt, ob sie für oder gegen ihn arbeitete. Freund oder Feind. Heute war der Schnee sein Freund. Morgen würde er ihn verfluchen. Oda war da anders. Sie liebte die Natur, bewegte sich gerne in den Wäldern, fühlte sich dort beschützt. Deshalb hatte sie sich einst die alte Jagdhütte in der Nähe von Potsdam zugelegt. Es war ihr Rückzugsort, ihre einsame Insel. Dort atmete sie durch, tankte auf, besann sich auf die wichtigen Dinge. Niemand wusste von dieser Hütte. Sie hatte sie während ihrer Zeit beim F. A. gekauft und niemandem davon erzählt. Eine weise Entscheidung, wie sich später herausstellte. Schon einmal hatten Krauss und sie die Hütte als Versteck benutzt, dort ihre Kräfte gesammelt und das weitere Vorgehen geplant. Dort waren sie sich zum ersten Mal nähergekommen. Insofern steckte die Hütte für Oda voll warmer Erinnerungen. Es war aber auch der Ort, an dem sie Krauss das letzte Mal gesehen hatte. Beinahe fünf Monate musste das zurückliegen. Damals war sie mit Philipp in eine ungewisse Zukunftaufgebrochen. Niemals hätte sie gedacht, dass sie hierhin zurückkehren würde. Sie hatte das Kapitel für abgeschlossen gehalten. Wie man sich irren konnte.
Krauss hatte die Hütte ins
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