Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
erschrocken bei dem Gedanken, stützte beide Hände auf dem Schreibtisch ab und versuchte, seine Gefühle zu sortieren. Eigentlich hatte er sich für angstfrei gehalten. Weil er derjenige war, der Schrecken verbreitete. Doch jetzt hatte jemand diesen Panzer durchbrochen und ihn mit seiner Verletzlichkeit konfrontiert. Ihn zurückgeworfen auf sich selbst. Krauss. Wegen dieses Mannes besaß er jetzt nur noch die Sachen, die er am Leibe trug. Seine Besitztümer waren in den Flammen verbrannt. Um seine paar Klamotten trauerte er nicht. Aber um seine Gifte. Seine Pulver. Seinen Schatz. Alles verloren wegen Krauss. Vor ihm fürchtete Hansen sich, vor dem Abgrund, der hinter diesen eisblauen Augen lauerte. Sie hatten ihn mitleidlos gemustert, wie ein Metzger das Schlachtvieh. Krauss war ein Killer. Ein zweites Mal würde er nicht versagen.
Hansen dachte an seine Flucht, an den schrundigen Schnee unter seinen nackten Sohlen. Die Kälte hatte seinen Körper umklammert wie ein Schraubstock, seine Füße waren taub gewesen, zu Klumpen gefroren. Aber er war trotzdem weitergelaufen, hatte funktioniert, dank seiner Konstitution undseines Willens. Im Geiste rannte er nicht durch ein verschneites Berlin, sondern durch einen dampfenden Dschungel und stellte sich vor, das Prickeln auf der Haut rührte von Sonnenstrahlen, die durchs Blätterdach stachen. Damit hielt er die Kälte auf Distanz. So war er Krauss entkommen. Knapp, mit Glück und Geschick. Ganz knapp.
Hansen hoffte, dass er sich damit Respekt verschafft hatte. Immerhin war er aus einer beinahe aussichtslosen Lage geflohen und hatte einen Angreifer getötet. Das Messer mit der vergifteten Klinge verbarg er stets griffbereit unter dem Bett. Als Krauss auf den Fahrer schoss und der Brite sich auf ihn stürzte, hatte Hansen sich das Messer geangelt. Nur ein Schnitt in die Hand war nötig, damit das Curare wirkte. Sekundenschnell. Der Brite begriff sofort, was passiert war; während er zu Boden torkelte, stieß er wilde Flüche aus. Hansen ergötzte sich an der Gewalt des Giftes, aber ihm blieb keine Zeit, seinen Triumph auszukosten. Denn da war immer noch Krauss. Also öffnete Hansen das Fenster, nahm Maß und sprang, gerade als Krauss auf ihn schoss. Es war pure Verzweiflung, die ihn dazu trieb, und wäre er es nicht gewohnt, seinem Körper aberwitzige Strapazen zuzumuten, hätte er den Sturz nicht ohne Knochenbrüche überlebt. So aber rollte er sich vom Autodach ab und landete im Schnee. Damit begann die Jagd.
Nach wenigen Minuten übernahm Hansens Instinkt, steuerte ihn durch das Dickicht der Stadt wie durch den Dschungel des Amazonas. Sein rationales Denken war ausgeschaltet, er rannte nur, mobilisierte alles, was sein Bewegungsapparat jemals abgespeichert hatte. Diese Unbedingtheit rettete ihn. Nachdem er die Schneeschaufel wie einen Speer nach Krauss geschleudert und den Wagen gestoppt hatte, war er weitergelaufen, eine Straße, zwei Straßen, bis ihm Menschen halfen, ihn in Decken wickelten und ihm heißen Tee reichten. Eine halbe Stunde mochte seit dem Beginn seiner Flucht vergangensein, und er hatte sich währenddessen vielleicht vier Kilometer von der Werkstatt entfernt, doch es schien ihm, als sei er bis zum Polarkreis gelaufen. Trotz der Decken hörte das Zittern nicht auf. Selbst als die Polizei und wenig später ein Rettungswagen auftauchten, klapperten seine Knochen noch. Er musste die Kontrolle zurückgewinnen, musste verhindern, dass sich die Kälte ins Unterbewusste verlagerte und dort weiter an ihm nagte.
Das war ihm nur zum Teil gelungen. Zwar war das Zittern verschwunden, aber die Kälte geblieben. Eisig stieg sie ihm die Kehle hoch, drohte seine Selbstsicherheit zu sprengen. Es gab nur einen Weg, sie wieder loszuwerden. Er musste Krauss zuvorkommen. Ihn töten. Aber wie?
Hansen ging in seinem Büro im Reichssicherheitshauptamt auf und ab. Das Zimmer war weder besonders groß noch repräsentativ und nur mit dem Nötigsten eingerichtet. Ein paar Stühle, ein Schreibtisch, ein Bild von Hitler an der Wand. Hansen vermutete zu Recht, dass dies nicht das Büro seines Vorgängers Edgar Krauss gewesen war. Aber es störte ihn nicht. Zumindest hatte er eine Sekretärin. Hansen sah aus seinem Fenster auf das winterliche Berlin. Über der Stadt lag ein Schleier aus winzigen Schneeflocken, die der Wind vor sich hertrieb. Je nach Stärke der Böen verdichtete sich der Schleier oder löste sich auf. Der Anblick ließ einen wieder frösteln, dachte Hansen und
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