Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
Flugzeuge und damit einen großen Teil ihrer Schlagkraft. In den Niederlanden gingen der Hafen von Rotterdam und erhebliche Teile der Stadt in Flammen auf – ein vermeidbares Missgeschick, weil der niederländische Kommandant vorher kapituliert hatte –, aber Göring wusste die einschüchternde Kraft solcher Bilder zu schätzen. Tag für Tag errangen die deutschen Truppen Erfolge, überrollten den Feind wie eine Lawine. Der Reichsfeldmarschall berauschte sich an dem täglichen Triumph und stopfte noch mehr Leckereien in sich hinein als sonst. Wie im Wahn futterte er sich durch die köstlichsten Gerichte und genoss die besten Weine, die er vorzugsweise konfiszieren ließ. Mit täglich rosigeren Backen dirigierte er das Geschehen aus seinem Sonderzug, durch dessen schmale Gänge sein mächtiger Körper walzte wie ein Panzer. Einige Offiziere witzelten, dass er irgendwann auf dem Weg zum Speisewagen stecken bliebe und nur schweres Gerät ihn aus seiner misslichen Lage würde befreien können.
Dem Reichsfeldmarschall war all das vollkommen egal. Hitler fraß ihm aus der Hand, die Generalität lag ihm zu Füßen. Ohne Zweifel hieß der Mann der Stunde Hermann Göring. Er sonnte sich in dieser Gunst, ließ sich neue Uniformen schneidern, die er mit Orden, goldenen Epauletten und juwelenbesetzten Gürteln verfeinerte. Am liebsten trug er Weiß. Göring wusste, dass hinter seinem Rücken über ihn gespottet wurde; einmal kam ihm zu Ohren, dass man ihn mit Graf Danilo ausder »Lustigen Witwe« verglich. Aber selbst das kümmerte ihn nicht. Sollten sie Witze reißen. Ein Wort von ihm genügte, und jeder dieser Schleimscheißer musste um sein Leben zittern. So konnte es endlos weitergehen, in Saus und Braus, die Welt ein gigantischer Selbstbedienungsladen, in dem andere die Zeche zahlten. Wunderbar. Damit es ihm in Belgien an nichts mangelte und er, um der trotz oder gerade wegen aller erdenklichen Annehmlichkeiten permanent lauernden Langeweile vorzubeugen, seinen liebgewonnenen Gepflogenheiten nachgehen konnte, ließ er sogar sein eigenes Rotwild aus den Wäldern Carinhalls hierherschaffen und vor seine Flinte treiben. Ein Leben ohne die Jagd fühlte sich nicht echt an. Zumindest bis zu diesem Morgen. Denn er hatte weder einkalkuliert, dass ein Reh mit ihm sprechen, noch dass er danebenschießen würde. Göring haderte ein wenig, merkte, wie ihm sein Versagen aufs Gemüt schlug. Er durfte nicht so hart mit sich ins Gericht gehen. Das Reh war nur geträumt und der Fehlschuss seinem Erschrecken zuzuschreiben. Ihn traf keine Schuld. Es gab keinen Grund, sich die Stimmung vermiesen zu lassen.
Aber es war zu spät. Automatisch schweiften seine Gedanken ab zu den unseligen Ereignissen im Winter. Wie viele Male hatte er das alles ergebnislos durchgekaut? Es brachte nichts, überhaupt nichts. Und doch. Wenn die vage Möglichkeit bestand, dass Hansen mit Hitlers Sohn in Deutschland auftauchte und die Position, die sich Göring in den vergangenen Wochen erobert hatte, in Frage stellte, konnte er die Ereignisse nicht ad acta legen. Denn warum sollte Hansen zu ihm kommen? Er musste damit rechnen, dass der Reichsfeldmarschall ihn über die Klinge springen ließ. Also würde Hansen sich, vorausgesetzt, der Junge befand sich in seiner Gewalt, direkt an den Führer wenden. Und ihm bei der Gelegenheit offenbaren, dass sein zweiter Mann ein falsches Spiel trieb. Göring mochte sich nicht vorstellen, was dann geschehen würde.
Dieser tausendfach verfluchte Hundesohn! Hansen. Niemals hätte er sich mit dem Kerl einlassen dürfen. Es war von Anfang an klar gewesen, dass Hansen nicht alle Tassen im Schrank hatte. Göring bekam das nicht in seinen Schädel, dass er auf diesen Hanswurst hereingefallen war. Aber damals konnte er natürlich nicht wissen, dass es so gut laufen würde für ihn, dass der Verlauf des Krieges ihn beinahe unangreifbar machte. Damals hatte er geglaubt, dass er einen Knüller in der Hinterhand brauchte. Stattdessen schwebte plötzlich ein Damoklesschwert über ihm. Bleib auf dem Teppich, beruhigte er sich. Nimm nicht das Schlimmste an. Die Wahrheit war doch: Er wusste rein gar nichts. Er spekulierte nur. Aber das war die Crux. Diese Gedankenspiele. Was wäre, wenn …? Das trieb ihn noch in den Wahnsinn.
Göring erinnerte sich genau an den Tag, als der Anruf kam. Man habe seine Nichte gefunden. Oda. Tot. Erschossen. Nicht, dass ihn das zum traurigsten Mann auf diesem Planeten machte; er war eher überrascht. Nach und
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