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Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)

Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)

Titel: Ein fremder Feind: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Isringhaus
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hinter Witzig die klapprige Leiter hinunter. Göring wünschte sich fast, eine Sprosse würde brechen und er könnte seinen Stiefel in Witzigs Gesicht bohren. Doch die Leiter hielt seinem Gewicht stand. Schweigend stampfte Göring in Richtung seines Sonderzuges, der hinter einem Buchenwäldchennur wenige hundert Meter entfernt wartete. Er hatte, wie meistens, zum Mittagessen eine Besprechung mit seinen Offizieren angesetzt. Sie mussten das weitere Vorgehen abstimmen. Noch hatte Frankreich nicht kapituliert.
    Göring sah auf seine Uhr. Er war spät dran. Um mehr als eine Stunde. Wenn die verfluchte Bagage nicht auf ihn gewartet hatte, dann … Ja, was dann? Das würde sich zeigen. Als der Reichsfeldmarschall den Zug erreichte, hatte sein Zorn apokalyptische Ausmaße angenommen. Er schmiss Kropp seine Flinte zu und schwang sich in den Speisewagen. Das Küchenpersonal räumte gerade die letzten benutzten Teller weg. Um den langen Tisch herum saßen vielleicht zwanzig Männer in Uniform und starrten Göring erschrocken an. Milch und Udet tupften sich mit der Serviette den Mund ab. Verräter, dachte Göring, verdammtes Gesindel. Na wartet.
    »Meine Herren, ich hoffe, das Essen hat Ihnen so gut geschmeckt, dass Sie es auch ein zweites Mal würdigen können.«
    Er wandte sich an den Oberkellner.
    »Sie tischen alles noch mal genauso auf, verstanden!«
    Göring setzte sich trotzig an seinen Platz am Kopf der Tafel. Die Männer blickten sich ratlos an, einige hatten die Köpfe gesenkt. Es war unübersehbar, dass sie nicht wussten, wie sie mit der Situation umgehen sollten. Und dass ihre Bäuche randvoll waren.
    »Herrschaften«, polterte Göring. »Ich erwarte von Ihnen, dass Sie alles bis zum letzten Krümel verputzen. Heute gilt das Gesetz des Stärkeren: Fressen oder gefressen werden. Wohl bekomm’s!«

33.
B UENOS A IRES
    27. Juli 1940
Avenida Alvarez
    Hansen schob sich gerade ein Stück Brot in den Mund, als der Junge das Haus verließ. Kurz hinter ihm folgte die Kinderfrau, hielt das Gittertor zur Straße offen, wartete auf das Mädchen. Der Deutsche stand auf, nahm hastig einen Schluck Kaffee, legte zwei Scheine auf den Tisch. Er war jetzt den dritten Tag in Folge in diesem Café, das sich als idealer Beobachtungsplatz erwiesen hatte. Hier fiel Hansen nicht weiter auf, blätterte stundenlang in zerlesenen Illustrierten, ohne allzu viel von den Geschichten zu verstehen. Sein Spanisch reichte für die alltäglichen Bedürfnisse oder ein oberflächliches Gespräch. Er begriff, dass sich die meisten Artikel mit dem Krieg in Europa beschäftigten. Details klammerte er aber lieber aus. Für das, was er vorhatte, fühlte er sich ausreichend gewappnet. Außerdem stellte hier niemand einem Fremden dumme Fragen. Wie alle Millionenmetropolen bot auch Buenos Aires denjenigen, die ihn suchten, den Schutz der Anonymität.
    Hansen war nach seiner Ankunft vor knapp einer Woche staunend durch die Stadt gelaufen, über die breiten, belebten Boulevards, auf denen mehr Autos fuhren und Menschen flanierten als in Berlin. Buenos Aires brummte. Obwohl er Paris nur von Fotos kannte, erinnerten ihn die Prachtbauten an die französische Hauptstadt. Eine solche an Europa orientierte Eleganz hatte er nicht erwartet. Hansen war auf dem südamerikanischen Kontinent bisher nur in Belem gewesen, das gegen Buenos Aires wie ein Provinznest wirkte. Belem ging alles Prunkvolle ab, es war das Tor zum Amazonas, geprägtvon Abenteurern, Halsabschneidern und Tagelöhnern, dem Dschungel und den tropischen Bedingungen abgerungen. Es besaß dafür den großen Vorteil, dass Hansen sich dort zurechtfand. Buenos Aires schüchterte ihn ein, Belem war sein Zufluchtsort.
    Deshalb hatte ihn seine überstürzte Abreise aus Berlin zuerst dorthin geführt. Nachdem er Oda und Krauss erschossen hatte und seine Euphorie langsam abgeebbt war, war ihm klargeworden, dass es keinen direkten Weg zurück zu den »Söhnen Odins« gab. Zu viele Menschen hatten in diesem Wald ihr Leben gelassen. Noch einmal würde ihn Göring nicht beschützen. Zumal Hansen die Nichte des Reichsfeldmarschalls getötet und damit dessen Befehle missachtet hatte. Er mochte sich nicht ausmalen, was passierte, wenn er es dennoch wagen sollte. Görings Schergen würden ihm die Seele aus dem Leib prügeln und ihn in irgendeinem gottverlassenen Acker verscharren. Die einzige Möglichkeit, die ihm blieb, war die Flucht. Wobei Hansen vor sich selbst lieber von vorzeitiger Abreise als Flucht sprach. Oder

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