Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
nach vervollständigte sich das Bild. Es war die Folge einer unfassbaren Insubordination, die Hansen den Kopf gekostet hätte, wenn man seiner hätte habhaft werden können. Wie es aussah, war er, ohne die Aktion im Vorfeld mit ihm, sondern nur mit Himmler abzustimmen, auf einen Tipp hin mitten in der Nacht mit fünfundzwanzig »Söhnen Odins« hinausgefahren nach Potsdam, um eine Jagdhütte zu überprüfen. Dort angekommen, geriet das Kommando in einen Hinterhalt und wurde größtenteils aufgerieben. Zehn Männer wurden getötet. Ein Desaster. Der Rest verirrte sich im Wald. Weil Hansen als Leiter der Operation nicht aufzutreiben war, untersuchten Gestapo und Reichskriminalpolizei den Fall. Die Ermittler fanden und fotografierten Odas Leiche.
Die Bilder von ihr wurde Göring seither nicht mehr los. Sie lag rücklings im Schnee, das Gesicht leicht zur Seite gedreht,die Augen weit geöffnet. Um ihren Kopf herum war der Schnee von schwarzen Linien zerfurcht. Das war ihr Blut, hatte man Göring gesagt. Stundenlang starrte er auf die Fotos. Sie waren von bizarrer Schönheit, zeigten ein fremdartiges Wesen. Einen Todesengel, hatte Göring gedacht. Für sie war die Reise vorbei. Für andere offensichtlich nicht.
Wenige Meter von Odas Leiche entfernt wurden Spuren gefunden, die darauf hindeuteten, dass auch dort jemand im Schnee gelegen hatte. Wer das war, ließ sich nicht klären. Aber viele Möglichkeiten gab es nicht. Denn unter den Toten fanden sich weder Hansen noch Krauss. Dass Letzterer sich mit Oda in der Hütte aufgehalten hatte, war nahezu hundertprozentig sicher. Von allen Szenarien, die in Frage kamen, schien Göring am wahrscheinlichsten, dass Krauss sich aus dem Staub gemacht und Hansen Oda getötet hatte. Danach war auch er verschwunden. Himmler hatte in Görings Büro wie ein Wahnsinniger herumgetobt, den Reichsfeldmarschall und dessen verkorkste Personalpolitik für das Fiasko verantwortlich gemacht. Göring musste ihm hoch und heilig versprechen, sich niemals mehr in die inneren Angelegenheiten der SS einzumischen und den nicht enttarnten Verräter im OKW nicht als Druckmittel gegen den Reichsführer-SS zu benutzen. Zwischen ihnen herrschte Waffenstillstand. Obwohl Himmler Göring derzeit überhaupt nicht interessierte. Solange die Schlagkraft der deutschen Wehrmacht von der Luftwaffe abhing, zählte nur eine Meinung – die des Reichsfeldmarschalls.
Wie realistisch seine Theorie bezüglich Hansens Verschwinden war, sollte sich Wochen später zeigen. Das Forschungsamt ermittelte, dass sich der Hundsfott heimlich falsche Papiere hatte anfertigen lassen. Hansen reiste unter dem Namen Heinrich Peskoller. Er hatte sich Mühe gegeben, seine Spur zu verwischen. Die Gestapo machte sie dennoch ausfindig. Sie führte über Dresden und München bis Genua. Dort verlief sie sich.Aber es war ein Leichtes, von Genua nach Südamerika zu kommen. Göring spekulierte, dass Hansen unterwegs war, um den Jungen aufzustöbern. Sollte ihm das gelingen, könnte das Damoklesschwert fallen. Was Göring irritierte, war der Zeitraum. Hätte Hansen nicht längst zurück in Deutschland sein müssen? Und was hatte das zu bedeuten? War der Junge nicht aufzuspüren? Verfolgte Hansen andere Ziele? Hatte er vielleicht das Zeitliche gesegnet? Letzteres wäre Göring am liebsten gewesen. Er reimte sich gerne zusammen, dass Krauss Hansen erwischt hatte, bevor der sich einschiffte. Für Görings Geschmack war die Situation extrem verfahren. Ausgerechnet zwei der größten Psychopathen, die ihm gefährlich werden konnten, liefen höchstwahrscheinlich frei herum. Beide besaßen mehr als einen Grund, sich an ihm zu rächen. Beiden traute er zu, dies auch zu tun. Das alles verursachte ihm, wenn er darüber nachdachte, jedes Mal eine derart schlechte Laune, dass er alles tat, um nicht darüber nachdenken zu müssen. Und umso mehr daran dachte.
»Papperlapapp«, murmelte er und erhob sich aus dem extrastabilen Stuhl, den ihm Witzig auf den Hochsitz bugsiert hatte. Die Holzkonstruktion knackte und wankte bedenklich.
»Sie gehen vor«, raunzte Göring. Wenn er von der Leiter abrutschte, fiel er wenigstens weich. Der Reichsfeldmarschall schulterte seine Flinte und schaute prüfend über die Lichtung. Kein Reh weit und breit. Wenn es wirklich sprechen könnte, würde es was zu erzählen haben, dachte der Reichsfeldmarschall. Ein paar dumme Witze über den dicken Jäger, der auch noch danebengeschossen hatte. Wütend drehte er sich um und stieg
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