Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
Krauss die Erinnerungen. Er schloss die Augen. Dachte an die Menschen, die er geliebt und verloren hatte. Erst Hanna. Dann Oda. Warum das Schicksal ihn zweimal bestrafte, ging über seinen Verstand. Andere Menschen segelten glücklich und unbeschwert durchs Leben. Vielleicht wurde manchen das Pech doppelt aufgebürdet, damit die Rechnung am Ende stimmte. Krauss wusste es nicht. Nur, dass man ihn zu Lebzeiten büßen ließ für seine Sünden. Mit jedem Tod eines geliebten Menschen war auch in ihm etwas gestorben. Zwar funktionierte sein Körper, aber innerlich fühlte er sich kalt, erstarrt. Das Einzige, was ihn am Leben erhielt, was ihn antrieb, war Hass. Während ihm alles andere fehlte, hatte er davon im Überfluss. Ein Universum voller Hass.
Odas Antlitz verfolgte ihn. Ihre erloschenen Augen. Dass Krauss noch lebte, war Zufall. Oder eben nicht. Auch das blieb wohl ewig ein ungelöstes Rätsel. Er war im ersten Licht durch den Schnee zu ihr gekrochen, hatte zart ihre Wange berührt, sie sanft geküsst. Ihre Haut war eishart gefroren. Krauss hätte sie gerne begraben, am Ufer des Weihers, den sie so sehr liebte. Aber das war unmöglich. Ihm blieb keine Zeit, und es fehlte geeignetes Werkzeug. Er versuchte, es ihr zu erklären, sprach mit ihr, flüsterte ihr Worte ins Ohr, die nur für sie bestimmt waren, Worte, die sie trösten sollten. Er schwor, den Mann zu töten, der ihr das angetan hatte. Sie wusste, dass er seine Versprechen hielt. Was es auch kostete. So verabschiedete er sich, stolperte in den Wald, fort von seinen Häschern.
Von diesem Tag an beherrschte ihn nur ein Gedanke: Hansen. Krauss stahl einen Wagen, brach in ein Haus ein, verschaffte sich frische Kleidung. Alle Menschen, an die er sich wenden konnte, waren tot. Seine Lage schien aussichtslos. Ein Mann fiel ihm ein, der vielleicht ein Interesse hatte, ihm zu helfen. Schulz-Kampfhenkel. Weil er Hansen ebenfalls hasste. Krauss beobachtete das Haus von Schulz-Kampfhenkels Eltern und hatte Glück. Nach zwei Tagen erschien der fußlahme Sohn zu Besuch. Krauss verschaffte sich Eintritt. Schulz-Kampfhenkel hörte ihm zu, vollkommen verängstigt, denn er wusste mittlerweile, mit wem er es zu tun hatte. Im Laufe des Gesprächs taute er auf, erzählte, dass Hansen wohl geflohen war und wo er ihn vermuten würde. Belem. Krauss meinte, es besser zu wissen. Zumal Schulz-Kampfhenkel offensichtlich keine Ahnung hatte, was Hansen antrieb. Sein verhasster Kamerad würde Buenos Aires ansteuern. Versuchen, sich den Jungen zu schnappen. Krauss’ einzige Chance bestand darin, ihm zuvorzukommen. Es war ein reines Glücksspiel: Würde Hansen zuerst nach Belem fahren und von dort aus nach Buenos Aires weiterziehen? Oder reiste er sofort nach Argentinien?Aus Krauss’ Sicht sprach einiges dafür, dass Hansen sich für Belem entschied. Er hatte keine Eile, hielt alle Widersacher für tot und konnte sich in vertrauter Umgebung auf seinen Coup vorbereiten. Natürlich erwähnte er Schulz-Kampfhenkel gegenüber kein Wort davon. Sie saßen wieder in seinem Zimmer, umgeben von den Krauss bekannten Amazonas-Memorabilien.
»Hansen will also wieder dorthin zurück«, hatte er gesagt und den für seine Augen mit Expeditions-Ramsch vollgestellten Raum gemustert. »Der Dschungel hat ihn infiziert.«
»Sie reden vom Dschungel wie von einer ansteckenden Krankheit«, entgegnete Schulz-Kampfhenkel. »Dabei war es nur eine besonders intensive Erfahrung. Ich habe Ihnen bereits in unserem ersten Gespräch gesagt, dass Sie im Urwald auf sich selbst zurückgeworfen werden. Er holt alles aus Ihnen heraus, was in Ihnen steckt, manchmal mehr, als Sie verkraften können. Für einen schwachen Menschen kann das ein prägendes Erlebnis sein, vergleichbar vielleicht mit einer Wiedergeburt. So einer wird in den Schoß zurückkriechen wollen, aus dem er gekrochen ist.«
»Sie wollen damit sagen, dass Sie Hansen für einen schwachen Menschen halten.«
»Ich will damit sagen, dass er anders aus dem Dschungel herausgegangen ist. Die Zeit dort hat ihn verwandelt. Er war hinterher ein anderer Mensch. Der Dschungel ist jetzt ein Stück Heimat für ihn.«
Krauss schätzte Hansens Motive anders ein. Schulz-Kampfhenkel war nicht in der Lage, seinen alten Kameraden unvoreingenommen zu beurteilen. Offensichtlich ging eine derartige Expedition an allen Teilnehmern nicht spurlos vorüber.
»Ich nehme an, dass Sie es begrüßen würden, wenn Sie Hansen niemals mehr begegnen«, sagte Krauss. »Ich biete Ihnen
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