Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
hatte. Eigentlich war er vom britischen Geheimdienst dazu auserkoren worden, Hitler zu töten. Aus diesem Grund hatten sie Krauss wieder in Deutschland eingeschleust. Doch er verfolgte seine eigenen Pläne, sann auf seine private Rache. Wer weiß, dachte Krauss, was passiert wäre, wenn er sich an seine Order gehalten hätte. Vielleicht gäbe es diesen Krieg nicht. Er schüttelte den Kopf. So ein Unsinn! Wie konnte er das denken? Hitler war zwar der schlimmste, aber nicht der einzige Kriegstreiber in diesem Land. Vielleicht hätte sein Tod etwas geändert, vielleicht aber auch nicht. Die gesamte deutsche Politik war auf den Konflikt mit anderen Nationen ausgerichtet. Der Krieg war absehbar gewesen, wahrscheinlich sogar unvermeidlich. Die britische Regierung wusste das, die polnische auch und die deutsche sowieso.
Krauss dachte an Birger Dahlerus, den schwedischen Geschäftsmann, dem er zweimal begegnet war. Dahlerus hattesich unbeirrt für den Frieden eingesetzt, gegen alle Widerstände. Krauss wusste nicht viel über den Schweden, aber das wenige reichte aus, um großen Respekt vor ihm zu empfinden. Für dessen Konsequenz, Unerschrockenheit und Disziplin. In diesen Punkten hatte Krauss sich Dahlerus nahe gefühlt, obwohl sie ansonsten grundverschieden waren. Er war ein Mann des Tötens, Dahlerus einer des Lebens. Und doch wollten sie auf eine gewisse Art dasselbe.
Dahlerus hatte ihm bei ihrer letzten Begegnung gesagt, dass er zurück in seine Heimat reise. Das war, nachdem Deutschland Polen den Krieg erklärt hatte. Krauss beschwor ihn, weiterzumachen mit seinen Bemühungen. Wenigstens einer, der für den Frieden kämpfte. Denn Krauss ahnte, dass dies erst der Anfang war. Deutschlands leichtes Spiel mit Polen konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass andere Nationen es Hitler schwerer machen würden. England zum Beispiel. Die Briten würden sich niemals von den Deutschen kolonialisieren lassen. Dass sie sich trotz ihrer Kriegserklärung bisher zurückhielten, besagte gar nichts. Das Schlimmste stand ihnen allen noch bevor, dachte Krauss. Deshalb musste er aus diesem Zimmer, dieser Stadt, diesem Land verschwinden, je schneller, desto besser.
Als sich Krauss auf die Bettkante setzte, weil ihm schummerig wurde, kam Weinberg herein. Früher hatte der Arzt mehrmals täglich nach ihm gesehen, jetzt schaute er nur noch sporadisch vorbei, meistens gegen Mittag. Von ärztlicher Seite gab es nicht mehr viel zu tun, die Wunden verheilten. Den Rest musste Krauss’ Organismus allein bewältigen.
»Übertreiben Sie es nicht«, riet Weinberg.
»Keine Sorge«, antwortete Krauss, »es wird jeden Tag ein bisschen besser.«
»Wenn Sie hier umkippen, bezweifle ich das.«
Mittlerweile hatte sich Krauss an Weinbergs direkte Art undden sarkastischen Unterton gewöhnt. Er schätzte es, wenn Menschen sich nicht verstellten. In seiner Branche wurde er täglich mit dem Gegenteil konfrontiert: jedes Wort eine Lüge, jeder Satz ein Verrat. Selbst mit der schlimmsten Wahrheit ließ sich leichter umgehen als mit diesem fortwährenden Betrug.
»Ich kippe nicht um«, sagte Krauss. Der Schwächeanfall war vorbei. Er musste die Gelegenheit nutzen, bevor Weinberg wieder verschwand.
»Darf ich Sie etwas fragen, was nichts mit meinem Gesundheitszustand zu tun hat?«
Der Arzt nickte.
»In welchem Verhältnis stehen Sie zu Theo Straubinger?«
»Er ist der Neffe meiner Frau«, sagte Weinberg. Nichts in seiner Stimme deutete darauf hin, wie er das bewertete. »Warum wollen Sie das wissen?«
»Ich suche nach Gründen, warum ich noch lebe.«
»Da müssen Sie Theo fragen.«
»Aber ich frage Sie.«
Weinberg zögerte, musterte seinen Patienten genau. Krauss wandte den Blick nicht ab. Der Arzt seufzte kaum hörbar.
»Theos Tochter hatte 1935 einen Blinddarmdurchbruch. Als sie bei mir auf dem Operationstisch lag, war es fast zu spät. Es ist gerade noch gutgegangen. Seitdem unterstützt Theo uns. Ich weiß nicht, wie er das mit seiner Stelle bei der Gestapo übereinbringt, aber es scheint zu funktionieren. Ohne ihn wären wir wohl nicht mehr hier.«
»Was soll das heißen?«
»Sie wissen nicht viel über die deutschen Judengesetze, nicht wahr?«
»Ich habe die vergangenen fünf Jahre in England gelebt. Einiges habe ich dort mitbekommen, die Zerstörung der jüdischen Synagogen zum Beispiel, vieles aber nicht.« Krauss sah zu Boden. »Vielleicht auch deshalb, weil ich es nicht so genauwissen wollte. Weil ich mich zutiefst schäme für das,
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