Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
und Hilflosigkeit.
»Was mich und meine Familie betrifft, so haben wir bisher Glück gehabt. Was man in diesen Zeiten so Glück nennt. Ich bin ein sogenannter Krankenbehandler, einer von vielleicht einem halben Dutzend in Berlin. Das habe ich Theo zu verdanken und meinem heldenhaften Einsatz im letzten Krieg.Dem Eisernen Kreuz. Als Krankenbehandler darf ich nur Juden verarzten. Der Bedarf ist groß, weil die meisten deutschen Ärzte keine Juden mehr annehmen dürfen. Ich tue, was ich kann, aber es ist schwer, an Medikamente zu kommen. Dieser Raum hier, in dem wir Sie untergebracht haben, ist eigentlich eine etwas groß geratene Abstellkammer. Wir haben sie für Sie hergerichtet. Meine Patienten dürfen Sie nicht sehen. Es ist zu gefährlich. In diesen Zeiten können Sie niemandem vertrauen. Wenn jemand am Abgrund steht, wird er alles tun, um nicht hinunterspringen zu müssen.«
Krauss hatte also nicht ganz richtig gelegen mit seinen Vermutungen. Weinberg betrieb keine geheime Praxis, er versteckte nur einen seiner Patienten. Die Chancen, das Zimmer verlassen zu dürfen, waren also gering. Weinberg sah ihm direkt in die Augen.
»Ich hoffe, dass mein Vortrag Sie nicht allzu sehr gelangweilt hat. Wahrscheinlich wissen Sie immer noch nicht, warum Theo Ihnen geholfen hat – ich weiß es übrigens auch nicht –, aber Sie wissen jetzt, warum ich Ihnen helfe. Wenn es stimmt, was Theo mir erzählt hat, waren Sie mal bei der Gestapo und kämpfen nun gegen Ihre Kameraden von damals. Ich bewundere Ihren Mut. Als Arzt und Familienvater ist mir der Weg des Kampfes verwehrt. Aber es ist ein Weg, den ich nachvollziehen kann. Ich bin froh, dass Sie wieder auf die Beine gekommen sind.«
»Dank Ihrer Hilfe.« Es waren die ersten Worte, die Krauss sprach, seit Weinberg seinen Monolog begonnen hatte.
»Ich habe nicht viel dazu getan. Es war allein Ihr Wille, der Sie hat genesen lassen. Sie sind stark.«
»Nicht so stark, wie Sie denken. Ich wollte sterben. Es ist mir nicht gelungen.«
»Vielleicht ist Ihre Zeit noch nicht gekommen. Gott hat etwas mit Ihnen vor. Sehen Sie es doch mal so.«
»Ich glaube nicht an Gott. Nur an menschliche Unzulänglichkeit.«
Weinberg verzog keine Miene. Krauss dachte an seinen Auftrag vom MI5. Hatte er noch Bestand? Wahrscheinlich mehr als je zuvor. Die britische Regierung musste sich Hitler tot wünschen, alles andere hätte ihn sehr gewundert.
»Wann darf ich diesen Raum verlassen?«
»Die Frage habe ich erwartet. Was halten Sie davon, wenn Sie ab heute abends mit uns essen? Dann sind wir unter uns, und Sie haben nicht mehr das Gefühl, hier eingesperrt zu sein.«
»Wenn Sie mich als Gast an Ihrem Tisch akzeptieren.«
»Reden Sie keinen Unsinn.« Weinberg stand auf. »Ich habe Ihnen gerade etwas dazu gesagt. Sie sind an meinem Tisch willkommen.«
Krauss lächelte.
»Vielen Dank.«
»Ich schicke Hannah, um Sie zu holen. So gegen neunzehn Uhr, denke ich.«
»Hört sich an wie eine Verabredung.«
Jetzt schmunzelte auch Weinberg. Zum ersten Mal, dachte Krauss.
»Ihr erster Termin in Ihrem zweiten Leben.«
»Ich glaube, es ist schon mein drittes«, sagte Krauss.
»Bleiben noch vier«, entgegnete Weinberg und ging. Krauss sah ihm nach. Zum Teufel mit Straubinger und dessen Plänen. Es war an der Zeit, wieder selbstbestimmt zu handeln. Einen Entschluss zu fassen. Er würde wieder auf die Beine kommen. Und dann würde er das tun, was man ihm aufgetragen hatte: Er würde Adolf Hitler töten.
9.
B RASILIEN
31. März 1936
Dorf der Aparai
Seit dem Tod des Jaguars war die Expedition vom Pech verfolgt. Hansen konnte es nicht begreifen. Wie war das möglich? Warum schien sich der Dschungel gegen sie verschworen zu haben? Für den Häuptling lag der Fall sonnenklar: Der Geist des Jaguars sann auf Rache und beschwor das Unheil herauf. Aber Hansen weigerte sich, an solchen Firlefanz zu glauben. Scheiß auf die Indianer, scheiß auf diesen verfluchten Urwald, scheiß auf alles, lautete sein tägliches Mantra. Er hatte die Schnauze gestrichen voll. Seit mehr als drei Monaten saßen sie jetzt in diesem hinterletzten Winkel des Planeten fest, und Schulz-Kampfhenkel versuchte immer noch, sämtliches Getier und Gerümpel dieses Landstrichs zu präparieren, zu sortieren und zu kategorisieren. Er hatte meterhohe Gestelle errichten lassen, um die Felle zu trocknen, vor denen die Indianer ratlos standen und die merkwürdigen Riten der weißen Männer bestaunten.
Was ging in Schulz-Kampfhenkel nur vor?
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