Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
was ich früher getan habe.«
Weinberg schwieg. Nach einem kurzen Moment zog er sich den Stuhl vom Fußende des Bettes heran und setzte sich.
»Dann werde ich mal einige Ihrer Wissenslücken schließen.«
Er blickte an Krauss vorbei, sammelte sich. Krauss ließ ihn in Ruhe. Er spürte, dass es Weinberg schwerfiel, die richtigen Worte zu finden. Der Arzt räusperte sich.
»Ich habe lebenslang an mein Land geglaubt. Ich bin hier geboren, aufgewachsen, zur Schule gegangen. Ich habe hier gelacht, gestritten, geliebt, gekämpft. Ja, ich habe für dieses Land gekämpft, in Frankreich, an vorderster Front. Ich habe für dieses Land sogar getötet, das Blut anderer Menschen vergossen.« Er stockte, sprach dann aber weiter. »Es ist mir nicht leichtgefallen, aber ich war der Meinung, dass es sein musste. Ich durfte mein Vaterland nicht im Stich lassen. Was war ich nur für ein Idiot. Nach dem Krieg habe ich Medizin studiert. Ich wollte den Menschen helfen, ihre Wunden versorgen, ihre Leiden lindern. Im Krieg habe ich so furchtbare Verletzungen gesehen und mich hilflos gefühlt. Wahrscheinlich wollte ich dieses Gefühl mit dem Studium kompensieren, das war mir damals schon klar, aber es war mir auch egal, welche tiefenpsychologischen Motive dahintersteckten. Ich wollte Arzt werden, in Deutschland, dem Land meiner Väter, dem Land, für das ich in den Krieg gezogen war und das mir dafür ein Eisernes Kreuz verliehen hat. Ein Kreuz, das muss man sich mal vorstellen.«
Er schüttelte den Kopf.
»Nach dem Studium habe ich im Krankenhaus gearbeitet, mich aber bald als Unfallchirurg selbständig gemacht. Im Sommer 1927 hatte ich meine eigene Praxis. Ich fühlte mich großartig. Ein paar Monate später lernte ich Inge kennen, siekonvertierte, wir heirateten. 11. August 1928. Alles lief reibungslos, wie vorgezeichnet. Besser hätte ich es mir nicht wünschen können. Inge und ich hatten besprochen, uns Zeit zu lassen mit den Kindern. Erst sollte die Praxis richtig laufen. Und sie lief sehr schnell sehr gut. Ich bin zwar Jude, aber ich bin ein guter Chirurg, Herr Krauss.«
Es war das erste Mal, dass sich Weinberg eine sarkastische Bemerkung gönnte. Krauss reagierte nicht; es schien ihm auch nicht erwünscht.
»Unser erster Sohn David wurde 1930 geboren. Sie haben ihn nicht kennengelernt, weil wir ihn zu Freunden in die Schweiz geschickt haben, genauso wie seinen Bruder Daniel. Er ist zwei Jahre jünger. Die beiden sind seit ein paar Monaten fort; wir dachten, das sei sicherer. Nur Hannah haben wir bei uns behalten, sie ist noch so jung, so schutzbedürftig. Außerdem erhält sie uns die Freude am Leben. Sie ist aufmerksam, intelligent, ein wunderbares Kind. Aber sie kennen Hannah ja.«
Krauss lächelte. Er hatte das Mädchen ebenfalls ins Herz geschlossen, nicht nur wegen ihres Namens.
»Hannah ist ein Kind des anderen Deutschlands. So nenne ich es. Das andere Deutschland. Das sogenannte Deutsche Reich. Was für ein hochtrabendes Wort: Reich. Da schwingt etwas Majestätisches, Erhabenes mit, dabei hat es rein gar nichts davon.«
Weinberg hielt erneut inne. Krauss bemerkte, dass der Arzt Probleme hatte, seine Emotionen zu kontrollieren. Unvermittelt sprach er weiter.
»Sie wurde 1934 geboren, etwa ein Jahr nach Hitlers Triumph. Hannah ist sozusagen unsere Antwort auf die Missachtung der Juden durch die Nationalsozialisten. Wir setzen Kinder in die Welt, um den Nazis den Wind aus den Segeln zu nehmen.« Er lachte gequält. »Dass es für Juden in Deutschland schwer werden würde, wenn die NSDAP an die Macht käme,war mir lange vor 1933 klar. Aber erstens habe ich nicht geglaubt, dass es so weit kommt, und zweitens, dass es solche Formen annehmen könnte. Wir Juden sind Verfolgung und Ausgrenzung gewohnt, Herr Krauss. Ich könnte jetzt weit ausholen, aber ich will Sie nicht langweilen. Nur damit Sie eine ungefähre Vorstellung davon haben: Seit dem vierten Jahrhundert nach Christus, als Kaiser Konstantin das Christentum zur Staatsreligion erhob, werden Juden missachtet, misshandelt, vertrieben und getötet. Tausendfünfhundert Jahre Verfolgung: Alles im Namen des Herrn natürlich, ein ehrbares, ja notwendiges Unterfangen, um das Heil aller zu garantieren.«
Krauss dachte an seine Zeit bei der SA und später bei der Gestapo, den »Söhnen Odins«. Dort behandelte man das Judentum wie eine Krankheit, die ausgemerzt werden musste. Krauss hatte diesen Hass nie ganz verstanden, aber er hatte das System auch nie in Frage gestellt.
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