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Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)

Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)

Titel: Ein fremder Feind: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Isringhaus
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Bis Hanna ihm die Augen öffnete. Trotzdem fühlte er sich dem Arzt gegenüber schuldig. Weil Krauss es hätte besser wissen müssen. Die Kranken, das waren seine eigenen Leute.
    »Tausendfünfhundert Jahre jüdischer Verfolgung, aber was in diesem Land mit den Juden passiert, ist unfassbar. Und niemand in Europa unternimmt etwas dagegen. Sie schauen zu, als ginge es sie nichts an. Die Engländer, die Franzosen, die Schweizer, unsere Nachbarn halten allesamt still. Hauptsache, die Geschäfte mit den Deutschen laufen gut. Es ist unglaublich. Es muss erst ein Krieg ausbrechen, um sie daran zu erinnern, was für ein Mensch dieser Adolf Hitler ist. Wenn er denn ein Mensch ist, was ich stark bezweifle.«
    Krauss gab Weinberg recht. England hatte sich zu lange hinhalten lassen. Aber er musste sich auch an die eigene Nase fassen. Er hatte einen wichtigen Auftrag gehabt und nicht einmal versucht, ihn auszuführen.
    »Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich nicht unvorbereitetwar. Ich habe damit gerechnet, dass es hart werden würde. Schwierig. Aber nicht unmöglich. Dieser Hass, der einem von allen Seiten entgegenschlägt, ist das eine, die totale Entrechtung in allen Bereichen des öffentlichen Lebens etwas ganz anderes. Seit sechs Jahren arbeitet der deutsche Staat minutiös daran, uns alles wegzunehmen – unsere Arbeit, unser Geld, unsere Wohnungen und vor allem unsere Rechte. Wir Juden gelten nichts mehr, wir haben nichts, wir dürfen nichts. Und wenn wir dieses Land, das uns den Boden unter den Füßen wegzieht, verlassen wollen, dürfen wir unseren Besitz nicht mitnehmen, weil wir ihn unrechtmäßig erworben haben. Als hätten wir das, was wir mit unseren Händen erarbeitet haben, den Christen gestohlen. Man jagt uns hinaus wie Straßenköter. Mehr sind wir nicht in den Augen der deutschen Regierung. Nur armselige Köter.«
    Weinbergs Verbitterung füllte den Raum vollständig aus.
    »Schauen Sie sich die deutschen Gesetze an, Herr Krauss. Sie müssen nichts über deren Inhalt wissen, um zu begreifen, welcher Geist dahintersteckt. Die Formulierung allein reicht aus. Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre, Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Hört sich gut an, nicht wahr? Das sind nur zwei Hilfsmittel von vielen, mit denen die Juden im Deutschen Reich entrechtet werden. Nehmen Sie meine Frau und mich. Obwohl Inge arischer Abstammung ist, wird sie durch ihren Übertritt zum Judentum und die Heirat mit mir wie eine Jüdin behandelt. Mischehen unterliegen einem unverständlichen Bewertungskodex, manche sind privilegiert, manche nicht. Entscheidend ist, in welchem Glauben sie ihre Kinder unterrichten. Entscheiden sie sich für eine christliche Erziehung, sind sie privilegiert. Das verschafft ihnen minimale Vorteile. Den Beruf verlieren können sie allerdings trotzdem. Niemand ist davor gefeit, ob Beamter oder Geschäftsführer,ob Anwalt oder Arzt. Je gebildeter, je spezialisierter, desto schneller müssen sie ihren Platz räumen. Nach und nach haben eigentlich alle Juden ihre Stelle verloren. Auch ich. Für jüdische Ärzte gilt seit 1938 ein Approbationsverbot. Schon vorher durften wir keine Christen mehr behandeln. Das klingt nach finsterem Mittelalter, aber es ist die Gegenwart. Die SS-schwarze Gegenwart.«
    Er räusperte sich, fuhr fort.
    »Juden müssen Kennkarten bei sich führen, auf denen verzeichnet ist, dass sie Juden sind. Juden dürfen weder einen Führerschein erwerben noch einen besitzen und damit auch kein Fahrzeug führen. Juden sollen, wenn möglich, gemeinsam in Judenhäusern leben. Juden müssen ihr Vermögen mehr oder weniger komplett dem Staat überschreiben. Das irrwitzigste Stück ist die von Göring geforderte ›Sühneleistung‹ von uns nach der Zerstörung der Synagogen: eine Milliarde Reichsmark dafür, dass deutsche Hetzer jüdisches Eigentum vernichteten. Dafür muss jeder Jude zwanzig Prozent seines Vermögens opfern, zahlbar in vier Raten. Ist das nicht vollkommen absurd? Aber es ist wahr, es ist unser Alltag, unser Leben in Deutschland. Weiß Gott, wohin das führt. Ich hoffe, dass Hitler den Krieg verliert. Vielleicht werden dann viele Dinge neu geordnet. Nur dass der Preis dafür so viel Leid sein muss, das leuchtet mir nicht ein.«
    Als der Arzt zu sprechen aufhörte, lastete die Stille wie ein Joch auf Krauss’ Schultern. Weinbergs Schweigen ließ sich genauso schwer ertragen wie das, was er zu sagen hatte. Der Raum war angefüllt mit Verzweiflung

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