Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
Dachte er wirklich, dieser primitive Dreck würde irgendjemanden in Deutschland interessieren? Glaubte er, der Führer wollte ausgestopfte Affen, geflochtene Körbe und bemalte Tonschalen bewundern? Hitler war angetreten, die Welt von Deutschlands Überlegenheit zu überzeugen. Wozu sollte er sich mit diesen Steinzeitmenschen befassen, die noch dazu in einem Landstrich lebten, den ein echter Deutscher nie betreten würde?
Schulz-Kampfhenkel freilich plagten zumindest äußerlich keine Selbstzweifel. Er sammelte unverdrossen weiter. Aberreichte es nicht, zwei oder drei Schlangenarten mit nach Hause zu nehmen, musste es gleich jede Unterart sein, derer man habhaft werden konnte? Vor kurzem war eines der Mistviecher aus dem Grammophon gekrochen, als sie gerade beim Abendessen saßen. Schulz-Kampfhenkel hatte nichts Besseres zu tun, als das Reptil, eine junge Jararaca, mit der Pinzette zu fangen und gleich in Alkohol zu legen. Hansen hätte das Vieh am liebsten plattgeschlagen und das verfluchte Grammophon gleich mit. Jeden Tag legten sie Platten auf, Walzer oder Märsche, um der ohrenbetäubenden, allumfassenden Kakophonie des Urwalds etwas Hochkultur entgegenzuhalten. Wer wusste denn, wie lange diese Mistschlange in dem Gerät herumschlich? Da wollte man »Preußens Gloria« hören, schon durfte man Deutschland nie wiedersehen, wurde stattdessen im fauligen Uferschlamm des Rio Jary begraben. Wie der arme Tropf Greiner. Mit der Krankheit des jungen Vorarbeiters hatten die Probleme begonnen, seit seinem Tod haftete ihrer Expedition ein bitterer Beigeschmack an, überschattete alles, was sie taten.
Greiner war am Fieber gestorben. Schulz-Kampfhenkel hatte ihn Mitte Dezember losgeschickt, in Santo Antonio den bei ihrer Abreise bestellten Nachschub zu holen und auf dem Weg zurück zu den Indianern den im Dschungel verstauten Proviant mitzunehmen. Auf dem Weg erwischte Greiner die Malaria. Weil er auf die von Schulz-Kampfhenkel verordnete Prophylaxe verzichtet hatte, raffte ihn das Fieber dahin. Hansen bedauerte den Verlust. Er hatte Greiner gemocht, schon deswegen, weil er nicht diesem arroganten Triumvirat angehörte, das sich für unfehlbar hielt. Aber der Bursche vertraute zu sehr auf seine jugendlich robuste Konstitution. Hochmut nahm der Dschungel schnell übel, das hatte Hansen gelernt. Man durfte den Urwald hassen, das ja, aber man durfte ihn niemals unterschätzen. Das war lebensgefährlich.
Vier Caboclos hatten Anfang Februar die Nachricht von Greiners Tod überbracht. Schulz-Kampfhenkel schickte Krause und Kahle gemeinsam mit weiteren Ruderern los, um den überlebenswichtigen Nachschub zu retten und ins Lager zu bringen. Während der wochenlangen Wartezeit auf Greiner waren die Vorräte bereits knapp geworden, nun drohten die Löcher im Speiseplan noch größer zu werden. Bald ging das Farinha, das Maniokmehl, aus, das Grundnahrungsmittel der Caboclos. Auch die Kaffeereserven waren verbraucht. Zudem brachten Hansen und Saracomano von der Jagd nicht regelmäßig frisches Fleisch mit. Manchmal ließ sich tagelang kein Großwild blicken, und sie kehrten nur mit einem Tukan oder einem Kapuzineraffen zurück. Nichts, wovon mehrere Männer und ein ganzes, wenn auch kleines Indianerdorf satt werden konnten. Hansen hatte es darüber verlernt zu lächeln. Mit steinerner Miene zog er durch den Dschungel, hochkonzentriert, seinen knurrenden Magen ignorierend.
Hinzu kam, dass Hansen ungeheure Willenskraft aufwenden musste, um sich Saracomano nicht zu offenbaren. Sosehr der Deutsche das archaische Indianerleben verachtete, den Körper dieses Jungen begehrte er mehr als alles andere. Er hasste sich dafür, schämte sich, aber er konnte nicht anders. Nachts in seiner Hütte masturbierte Hansen wild, um seine Triebe abzureagieren, aber der Anblick des sehnigen Saracomano entfachte seine Lust am nächsten Tag aufs Neue. Hansen wusste, dass es nicht mehr lange gutgehen konnte, dass es in ihm brodelte. Irgendwann würde es zur Explosion kommen. Mittlerweile verzichtete Hansen oft darauf, bei ihren gemeinsamen Streifzügen ein Hemd zu tragen. So konnte er Saracomanos Haut spüren, wenn sie sich versteckten, um Wild zu beobachten, bewegungslos, eng aneinandergeschmiegt. Er kostete diese Momente aus, sie halfen ihm über die Entbehrungen hinweg und ließen ihn zugleich am Leben verzweifeln.
Wenn sie ihre Jagdbeute ablieferten, meinte Hansen manchmal einen kritischen Blick des Häuptlings aufzufangen, als ob der Alte etwas ahnte.
Weitere Kostenlose Bücher