Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
schluckte die Geräusche. Hansens Blick schweifte über die reglosen Körper um ihn herum. Langsam überwältigte ihn die Erkenntnis: Er war am Leben. Ein mächtiges Glücksgefühl durchströmte Hansen, ließ seine Muskeln zumersten Mal leise flattern. Ja, er hatte sich den Indianern gestellt, diesen Wilden, und seinen Ängsten, und er hatte alle besiegt. Nichts und niemand konnte ihm etwas anhaben. Im Dorf warteten ahnungslos Schulz-Kampfhenkel und der Tross aus Wayana und Aparai auf ihn, um die Rückreise anzutreten. Hansen würde zum Aufbruch drängen. Bis die Wayapi ihre toten Stammesbrüder gefunden hatten, war die unglückselige Expedition schon kilometerweit den Jary stromab gefahren. Außerdem bezweifelte Hansen, dass die Wayapi sie überhaupt verfolgen würden. Erst einmal mussten sie die Ereignisse rekonstruieren. Es gab keine Zeugen. Hansen glaubte nicht, dass der Indianer, dem er das Messer in die Brust gestoßen hatte, noch lebte. Falls doch, wäre er nicht weit gekommen, und Hansen konnte sein Werk auf dem Rückweg vollenden. Außerdem hielt er die Wayapi für zu ängstlich, um gegen die Weißen und die Wayana zu Felde zu ziehen. Die Wayapi würden sich in ihr Elend ergeben. Daran zweifelte Hansen nicht im Geringsten. Nicht jetzt, nicht hier, nicht in diesem wunderbaren Rauschzustand, der ihn fast zu überwältigen drohte.
Euphorie beschrieb es am besten, eine Art übersteigertes Selbstbewusstsein, die Gewissheit, alles, und sei es noch so menschenunmöglich, schaffen zu können. Er war unbesiegbar. Aocapoto hatte recht gehabt. Hansen fasste mit der linken Hand an den Jaguarzahn, der um seinen Hals baumelte. Unbesiegbar. Niemand war in der Lage, ihn zu bezwingen. Nur er selbst. Er starrte auf den Revolver in seiner Rechten. Fünf Kugeln hatte er verschossen, fünfmal getroffen. Unglaublich. Noch eine Kugel steckte in der Trommel. Aus einem Impuls heraus wischte er mit der Linken darüber, ließ die Trommel rotieren.
»Unbesiegbar!«, schrie er lauthals in den gnadenlos blauen Himmel, setzte sich den Revolver an die Schläfe und drückte ab.
14.
B ERLIN
8. November 1939
Reichssicherheitshauptamt
Wie Schüsse knallten die Stiefelabsätze auf dem Steinfußboden der weitläufigen Eingangshalle des Gestapo-Hauptquartiers. Krauss schritt energisch aus, versuchte, selbst den geringsten Anschein von Unsicherheit zu vermeiden. Er wusste, dass aufmerksame Augen auf ihn gerichtet waren, auch wenn die Sicherheitsposten zunächst keinen Anlass hatten, in ihm einen unbefugten Eindringling zu vermuten. Die schwarze Uniform saß tadellos, das silberne Koppelschloss glänzte frisch gewienert, die Kragenspiegel wiesen ihn als SS-Hauptsturmführer aus. Ein hohes Tier auf dem Weg zu einem wichtigen Termin. Krauss bewegte sich in der Kleidung mit einer Selbstverständlichkeit, die ihn kaum zu überraschen vermochte. Er hatte seine Lektion gelernt. Und einen hohen Preis dafür bezahlt.
Die Verwandlung hatte in seinem Versteck stattgefunden. Krauss nahm Weinbergs Frau in einem geeigneten Moment beiseite, erklärte ihr, dass es zu gefährlich sei, wenn er weiter bei ihnen wohnte. Sie wollte protestieren, aber er ließ es nicht zu; seine Entscheidung war endgültig. Er bat sie, ihm die struppigen und viel zu langen Haare militärisch kurz zu schneiden. Sie sträubte sich, doch er bestand so hartnäckig darauf, dass sie bald nachgab, außerdem war da eine ungewohnte Schärfe in seiner Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Inge Weinberg verpasste ihm einen Schnitt, mit dem Krauss nicht mehr auffiel, rasierte den Nacken und die Partien um die Ohren aus. Als er sich aus dem Stuhl erhob und sie ihr Werk begutachtete, erschrak sie. Aus seinen hellblauen Augen war alles Sanfte verschwunden,sie wirkten jetzt unergründlich und kalt. Erschreckend kalt. Fast schien es ihr, als sehe sie Krauss zum ersten Mal, wie er wirklich war, die kantigen Kiefer, die Narbe am Kinn, der bedrohlich bohrende Blick. Die kurzen Haare ließen seine Züge noch härter wirken. Wen hatte sie da bei sich aufgenommen? Er lächelte, und sie bereute ihre Gedanken.
Krauss blieb ihr Zwiespalt nicht verborgen, er kannte seine Wirkung auf andere Menschen. Bereits auf dem Gymnasium fürchteten ihn seine Mitschüler, hielten ihn für gefühlskalt und gefährlich. Ihm gefiel das, er pflegte sein Image, schon allein, weil es ihn im Ansehen seines großen und beliebteren Bruders hob. Niemand wusste, wie es tatsächlich in ihm aussah. Erst Hanna erkannte sein
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