Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
sich die Dinge in Zukunft bessern werden. Gehen Sie, schon allein Hannah zuliebe.«
Inge Weinberg senkte den Kopf.
»Wir haben bereits darüber gesprochen. Samuel will nicht klein beigeben, aber ich schaffe es nicht mehr. Ich kann nicht jeden Tag mit der Angst leben, dass sie ihn mir wegnehmen.«
»Gehen Sie«, sagte Krauss. »Die Nazis sind Totengräber. Es wird noch schlimmer werden, als wir es uns heute vorstellen können.«
»Wahrscheinlich habt ihr beide recht«, entgegnete der Arzt. »Mir behagt nur der Gedanke nicht, meine Heimat zu verlassen.«
»Tun Sie es, solange es noch möglich ist.«
Krauss stand auf.
»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll. Mir fallen in solchen Momenten nie die richtigen Worte ein. Aber Sie solltenwissen, dass das, was Sie getan haben, mir den Glauben an die Menschen wiedergegeben hat. Am Anfang habe ich mich geärgert, weil ich sterben wollte, jetzt bin ich dankbar dafür, dass ich Sie kennenlernen durfte. Vielen Dank für alles. Sie sind eine tolle Familie, Sie haben eine phantastische Tochter. Beschützen Sie sie. Ich werde mich morgen früh von ihr verabschieden.«
Krauss wollte gehen, aber Weinbergs Frau griff nach seiner Hand und hielt sie fest.
»Hören Sie auf zu glauben, dass Sie ein schlechter Mensch sind. Sterben ist viel zu einfach. Das Leben ist die Herausforderung. Ich freue mich, dass Sie sich dafür entschieden haben. Passen Sie also bitte auf sich auf.«
Krauss dachte an diese Worte, als er durch das Foyer des Gestapo-Gebäudes marschierte. Er sollte besser auf sich aufpassen. Leicht gesagt. Lebend würde er auf jeden Fall nicht in die Hände seiner Feinde geraten, das hatte er sich geschworen. Nur noch wenige Schritte durch den mit Hakenkreuzfahnen und Büsten berühmter Nationalsozialisten geschmückten Saal, und er hatte das Treppenhaus erreicht. Blumbergs Büro lag im dritten Stock. Bis hierher war alles glattgegangen. Es war zwanzig Uhr fünfzig. Die Wachposten am Eingang hatten zackig vor seiner SS-Uniform salutiert und ihn passieren lassen. Nur seine Dienstwaffe musste er an einem Schalter im Foyer hinterlegen. Damit hatte er gerechnet. Die zweite Walther PPK steckte unsichtbar im rückwärtigen Bund seiner Hose, den Schalldämpfer trug er in seiner Rocktasche. Krauss unterzeichnete ein Papier, löste das Holster vom Gürtel und überreichte es dem Soldaten. Es war so wie von ihm vermutet: Niemand rechnete hier mit einem Eindringling, an jeder Ecke warteten mit Maschinenpistolen bewaffnete SD- und SS-Männer darauf, potentielle Attentäter auszuschalten.
Krauss erreichte unbehelligt die erste Stufe der geschwungenen Treppe. Soweit er wusste, war das herrschaftliche Haus von König Friedrich Wilhelm I. vor zweihundert Jahren als Stadtpalais errichtet worden. Heute beherbergte es unter dem Dach des von Heinrich Himmler gegründeten Reichssicherheitshauptamtes den Sicherheitsdienst, die Reichskriminalpolizei und die Gestapo. Mehr polizeiliche Gewalt ließ sich in einem Haus nicht vereinen. Reinhard Heydrich, einer der brutalsten Nazi-Schlächter, hatte seinen Dienstsitz in diesem Gebäude. An ihn ranzukommen würde ihn vor größere Probleme stellen, dachte Krauss. Unmöglich war es nicht.
Auf Höhe des zweiten Stocks spürte er, dass er noch nicht wiederhergestellt war. Er schnappte leicht nach Luft, musste langsamer gehen. In der dritten Etage angekommen, verharrte er einen Moment, orientierte sich, sammelte neue Kräfte. Blumbergs Büro lag links von der Treppe, in einem Seitenflur. Krauss ging weiter. Hier oben waren weder Wachen noch sonst jemand zu sehen. Um diese Uhrzeit hatte ein Großteil des Personals bereits Feierabend. Sollte es einfacher werden als gedacht? Zwei Minuten später stand er vor Blumbergs Tür. Zimmer 318, hatte Straubinger gesagt. Krauss blickte rechts und links den Flur hinunter. Niemand zu sehen. Er nahm die Walther aus dem Hosenbund und schraubte den Schalldämpfer auf den Lauf. Dann öffnete er die Tür.
In dem relativ geräumigen Zimmer war ein Schreibtisch so positioniert, dass er als Empfangstresen fungierte. Links und rechts registrierte Krauss verschlossene Türen. Eine davon musste in Blumbergs Büro führen. Hinter dem Tisch saß ein Mann, der überrascht aufschaute. Blumbergs Sekretär. Er wollte etwas sagen, stockte jedoch. Aus Krauss’ Sicht gab es dafür zwei Gründe. Entweder der Sekretär hatte seine Rangabzeichen gesehen – einen SS-Hauptsturmführer raunzte man nicht an, selbst wenn er unangekündigt
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