Ein Freund der Erde
wiederholte der Sheriff gerade und richtete den Zeigefinger auf den Anwalt. »Und da zieht er diese Scheiße hier ab, flieht einfach aus unserem Gewahrsam? Was hast du dazu zu sagen, Fred, hä?«
Fred der Rechtsanwalt hatte eine Menge zu sagen, wenn auch das meiste davon an Tierwater vorbeiging, aber während des folgenden Wortwechsels konnte er sich nach vorn beugen, wo in der Plexiglas-Trennwand zum Fahrersitz eine praktische Öffnung zum Zwecke der Kommunikation zwischen Verbrecher und Ordnungsbeamtem angebracht war. »Wo ist Sierra?« schrie er in das heruntergebeugte Gesicht seiner Frau.
»Kinderschutzprogramm.«
»Was? Was soll das bedeuten?«
Hier schaltete sich Deputy Sheets ein, der neben ihm auf der robusten harten Rückbank saß. Sheets war in seiner Berufsehre gekränkt worden, und er fand das nicht lustig. »Jugendknast«, sagte er und riß Tierwater an den Handschellen, damit er sich ihm zuwandte. »Da sitzt sie mit den Ausreißern und den Ladendieben, mit Junkies und Mördern. Und da bleibt sie auch, bis der Richter sein Urteil fällt.«
»Sein Urteil?« Tierwaters Herz raste. »Worüber denn?«
»Na, was glauben Sie wohl? Ob Sie als Vater tauglich sind oder nicht.«
Er fuhr wieder herum, um in Andreas Gesicht zu lesen, und in ihm tat sich eine schwarze Kluft aus Reue und Verzweiflung auf, endlos tief und unüberbrückbar. Er wußte es. Hatte es die ganze Zeit gewußt. Ärger ist etwas vollkommen Normales in einer Welt, die vom Zufall bestimmt ist, logisch, genau wie Blitzeinschläge, aber nur ein Narr – nein, streichen wir das –, nur ein unverbesserlicher Trottel handelt sich den Ärger mit Absicht ein.
Deputy Sheets räusperte sich. »Da hätten wir noch zwei Anklagepunkte«, sagte er, und in seiner Stimme schwang dermaßen viel Triumph mit, als würde er am Unabhängigkeitstag die Sieger beim Sackhüpfen bekanntgeben, »Fluchtversuch und Anstiftung einer Minderjährigen zu strafbaren Handlungen.«
Acht Monate vorher lebte Tierwater ein zielloses Leben der stillen Verzweiflung, in dem er sozusagen am Lenkrad schlief und zusah, wie das Imperium seines Vaters zu Staub zerfiel, so wie all die anderen geriatrischen Reiche zuvor – Ihr Mächtigen: blickt auf mein Werk – seid aller Hoffnung bloß! Es war Dezember, fahl, der Wind schneidend. Einmal fror es, dann war alles Matsch, und am nächsten Tag war der Matsch überfroren. Jämmerliche Pappweihnachtsmänner und ausgeschnittene Menora klebten an den dreckigen Scheiben der Läden im Einkaufszentrum – bei denen jedenfalls, die nicht dunkel waren, weil die Mieter fehlten –, und in den betagten weihnachtlichen Lichterketten an den verbogenen, rostigen Nägeln, die sein Vater vor zwanzig Jahren in die Gipsfassade des Hauses gehämmert hatte, war die Hälfte der Glühbirnen kaputt. Sierra war zwölf, unerträglich mutterlos, unangemessen gekleidet (wie Jodie Foster in Taxi Driver ), fernsehsüchtig, Vegetarierin und ein Fan von Gruftimusik. Ihre Miene war wie eine fallende Axt, die zweimal täglich auf ihn niedersauste: morgens, wenn er sie im Jeep Laredo zur Schule fuhr, und abends, wenn er nach der Arbeit heimkam und sein Haus mit ihren satanischen Freunden überschwemmt war.
Tierwater seinerseits versuchte sein Bestes, büffelte mit ihr über Geographiebüchern und dem Goldenen Schatzkästlein der Literatur , ging einmal pro Woche im Sinne der Vater-Tochter-Bindung mit ihr zum mongolischen Barbecue ins Einkaufszentrum, hielt sich mit Kommentaren zurück, wenn sie mit einem Nasenring nach Hause kam aus der benachbarten brandneuen klimatisierten Siebenundsechzig-Geschäfte-Shopping-Galerie, die ihm bis ins Mark weh tat, das Herz herausriß, Plattfüße verursachte und mit seiner Verdauung Schlitten fuhr. Sein Liebesleben war nicht existent. Aus einer sechs Monate währenden Affäre mit einer hageren, knausrigen Frau namens Sherry, die ihr strubbeliges Haar zu einer weißblonden Korona aufgedonnert hatte und damit ständig oben anstieß, wenn sie durch eine Tür ging, hatte er sich vor einem Monat so taktvoll wie möglich verabschiedet (zu seiner Sekretärin: »Sagen Sie ihr, es war ein Kletterunfall und man hätte meinen Leichnam nie gefunden«). Seitdem war er mit niemandem mehr ausgegangen. Keine Frau hatte ihn seitdem auch nur angesehen – nicht mal bei Capelli’s, der Bar im Einkaufszentrum, so ziemlich dem einzigen Laden dort, wo ein bißchen Betrieb herrschte. Alleinerziehende Mütter scharten sich um wacklige Tischchen und
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