Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Freund der Erde

Ein Freund der Erde

Titel: Ein Freund der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
sie es schmutzigbraun oder fischbauchgrau färbte, wenn sie in die Nacht loszogen, um gegen das System zu kämpfen –, und es war so geschnitten und gescheitelt, daß es ihr jedesmal ins Gesicht fiel, wenn sie den Kopf schräg hielt. Das Haar fiel nach vorn – gutes Haar, gesundes Haar, kalifornisches Haar –, und dann schob sie es zurück, dabei sah man ihre Hände, oder sie warf das Kinn nach vorn, so daß das Haar im Licht kurz aufblitzte und gleich wieder unfehlbar richtig lag, und dabei sah man ihre Augen. Tierwater sah sie. Er sah Andrea. Und noch bevor er begriff, daß sie die Hauptattraktion des Abends war – gemeinsam mit Teo –, drängte er sich durch den Vorhang aus Gesichtern, der um ihre Schultern hing, und stellte sich vor. »Hallo«, sagte er und zeigte die Zähne in seiner besten Imitation eines Lächelns, »ich bin Ty Tierwater, und Sie sind...«
    Was hatte er an? Er erinnerte sich nicht. Sicher nichts, was sich als umweltbewußt und schick bezeichnen ließ – kein Gore-Tex oder Bion II oder irgend so etwas. Wahrscheinlich sah er aus wie ein Penner. Wieso auch nicht? Er hatte nichts weiter vor. Geben wir ihm einen Dreitagebart, vorzeitig ergraut (aber nur am Kinn), die Bluejeans mit Farbe und Spachtelmasse und anderem Zubehör der Baubranche bekleckert, eine Bomberjacke, die von Altersrissen und -brüchen übersät war, als hätte einer der alten italienischen Meister daran gearbeitet. Stil hatte er keinen. Das hätte er als erster eingestanden. Aber er sah nicht übel aus, je nach Geschmack natürlich. Dünn. Fast schon hager – aber immerhin war er nicht fett geworden, so wie alle anderen Neununddreißigjährigen in den USA. Er hatte noch dichtes Haar und ein halbwegs vollständiges Gebiß, und er konnte so ziemlich alles hochheben und sich über die Schulter knallen und damit bis in die Hölle und zurück marschieren, wenn ihn nur die richtige Frau darum bat. Und er war ein geduldiger, unermüdlicher und zärtlicher Liebhaber – eine Kombination von Adjektiven mit einem wuchtigen Substantiv, die er sich auf ein T-Shirt hätte drucken lassen sollen. Beeinträchtigt hätte es seine Chancen sicher nicht.
    Ihre Hand lag in seiner. Er spürte rauhe Stellen, Hornhaut und Schwielen, die von Mühsal und Leid rührten, aber auch etwas Aufrichtiges – kein dummes Herumgetue, sagte ihr Händedruck. Auch ihre Lippen bewegten sich. »Andrea«, sagte sie als Antwort auf seine Frage, und ihre Stimme überraschte ihn, so hoch und piepsig, dabei hatte er ein Knurren erwartet, ein tiefes, kehliges Grollen – Laß uns auf allen vieren um das Fleisch kämpfen –, »Andrea Cotton.«
    In Teos Wagen war es eng auf dem Rückweg nach Los Angeles, aber nicht so eng wie auf der Hinfahrt. Tierwater saß vorn, neben Teo, weil er so lange Beine hatte, und Andrea streckte sich auf dem Rücksitz aus, weil ihre auch so lang waren. An Sierra erinnerte eine rosa Schultertasche mit dem Grinsegesicht einer Disneyfigur auf der vorderen Klappe, ein Überbleibsel ihrer Kindheit. Die Tasche lag hinter Tierwaters Sitz auf dem Boden und enthielt abgeschnittene Jeans, ein Stretchoberteil, Socken, Unterwäsche, Kosmetika, sieben selbstaufgenommene Kassetten mit Gruftimusik in gesprungenen Plastikhüllen und für den Notfall ein Vampirroman von der Größe eines Taschenwörterbuchs. Obwohl sie seit zwei Stunden unterwegs waren – inzwischen längst wieder in Kalifornien, Mount Shasta erschien und verschwand, erst in dem einen Fenster, dann im anderen, wie ein Zaubertrick –, hatte Tierwater noch kein Wort geredet. Er starrte nur geradeaus, und seine Miene war derart angespannt, daß ihm die Zähne weh taten.
    Andrea und Teo unterhielten sich über ihn hinweg, die knappen Vokale von Teos überschwenglicher Surferstimme mischten sich mit dem ländlichen Genöle ihres Montana-Akzents, bla-bla, und ihr einziges Thema war Taktik. Nicht Sierra. Nicht die Frage, wie man sie aus den Klauen dieses Richters – Richter Duermer, fett wie ein brunftiger Seelöwe und doppelt so angriffslustig – und den Puritanern vom Kinderschutzprogramm mit ihren Nußknackergesichtern befreien könnte. Denn die Sache lag so: Sierras Anwalt, vom Staat Oregon zugewiesen, hatte im Namen des Volkes als sozialpädagogische Maßnahme für die Minderjährige beantragt, Tierwater – einem Vater, der sein Kind gefährdete und zu Gesetzesbruch anstiftete – das Sorgerecht abzusprechen, und nun saß Sierra im Jugendgefängnis ein, zusammen mit lauter Verbrechern,

Weitere Kostenlose Bücher