Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Freund der Erde

Ein Freund der Erde

Titel: Ein Freund der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
Tag, trotzdem war bereits eine Menge los – und wartete auf die goldene Gelegenheit, wenn alle gleichzeitig durch verschiedene Türen verschwanden. Die Freiheit lockte durch die Glasscheibe des Haupteingangs, gleich hinter dem Geschenkeladen und der Anmeldung. Wie weit war das – fünfzehn Meter? Zwanzig? Jetzt oder nie. Er hielt sich das Hemd im Rücken zusammen und stürmte auf die Tür zu, taub für die entsetzten Schreie der beiden Frauen an der Anmeldung (die aussahen wie junge Kindergärtnerinnen mit Hackfleischgesichtern und Plastikfrisuren und ihm Sir! Sir! Kann ich Ihnen helfen, Sir? nachriefen), die klare, frische, noch unverfälschte Oregoner Luft in der Nase, und hinter dem leeren Parkplatz kam eine endlose Fläche voll Unkraut und Gestrüpp in Sicht.
    Wenn das hier ein Film wäre, dachte er – und bis zu diesem Moment war alles, was er tat, von dem diktiert gewesen, was er auf Kinoleinwänden mehrfach gesehen hatte –, würde er jetzt in einen Sportwagen neueren Baujahrs steigen, mit einem Schraubenzieher die Lenkradsperre aufbrechen, die Zündung kurzschließen und in einer grandiosen Wolke aus Auspuffqualm und spritzendem Kies verduften. Oder die Heldin, die starke Ähnlichkeit mit Andrea hätte, mit tiefem Ausschnitt und einem Wahnsinns-BH, käme genau in diesem Moment am Randstein vorgefahren, worauf er nur sagen würde: Los, hauen wir ab! Oder: Rock and roll, Baby! Sagten sie das nicht in allen Situationen, die heroisches Handeln erforderten? Aber das hier war kein Film, und ihm fehlte das Drehbuch. Letztlich mußte er damit vorliebnehmen, auf allen vieren durch die Kletten und Brennesseln zu robben, in beständiger Angst vor unvermeidlichem Sirenengeheul und aufgeregtem Stimmengewirr.
    (Wie lange war ich da draußen – auf der Flucht, meine ich? Ich sag’s euch, ich weiß es nicht, aber es war der längste lange Vormittag, den ich je im Leben verbracht habe. Und dann waren da diese Hunde – oder ein Hund –, diese Demütigung, die sich dem Beton und den Windeln und dem schmalen Scheißefressergrinsen der Waldis und ihrer Vorschlaghammerschergen hinzugesellte. Also gab ich auf. Natürlich tat ich das. Wie weit hätte ich es wohl geschafft, im Krankenhaushemd?)
    Tierwater blieb viel Zeit, um seine Probleme zu wälzen und darüber nachzudenken, wie unratsam – nein, wie schier unverblümt dämlich, ja geradezu selten idiotisch – es gewesen war, sich an diesem Morgen der persönlichen Bewachung von Deptuy Sheets und damit des Sheriffs von Josephine County zu entziehen. So saß er da im dichten Gestrüpp, keine fünfhundert Meter vom Krankenhauseingang entfernt, zerkratzt und verdreckt, die Füße an einem halben Dutzend Stellen blutend, das Papierhemd um die Hüften gewickelt, und immer der Gedanke daran, was sie ihm jetzt antun würden, zusätzlich zu allem anderen. Zwei Nächte zuvor in der Stille des Siskiyou Forest war er zaghaft gewesen und dann schlichtweg außer sich, als sie auf seine Tochter losgingen, aber jetzt fühlte er sich beinahe zerknirscht. Beinahe. Aber nicht ganz. Sie hatten ihn gedemütigt und seine Frau und Tochter terrorisiert – das konnte er nicht vergessen.
    Er horchte auf das Heulen der Sirenen in der Ferne und auf die viel näheren Singvögel in den Bäumen und die Insekten im Gras. Sein Atem ging langsamer. Etwas später stach die Sonne durch den frühmorgendlichen Dunst und wärmte ihn. Er legte den Kopf zurück in die gefalteten Hände und wurde zum Beobachter, einfach weil er nichts Besseres zu tun hatte. Das Geflecht der Pflanzen – Steinbrech, Kornblume, Goldrute – zeichnete sich vor dem Himmel ab, jedes Blatt und jeder Stengel vor Leben zitternd. Grashüpfer, Motten, Ameisen, Käfer und Spinnen, das waren hier die Gazellen und die Löwen, sie durchstreiften eine Miniatursavanne, die für sie groß genug war – wenigstens bis das Krankenhaus einen neuen Flügel brauchte oder irgendein Immobilienheini ein Einkaufszentrum hochzog. Er versuchte, nicht über Milben, Flöhe und Zecken nachzudenken, obwohl es ihn überall juckte, so daß er sich kratzte, bis seine Haut wund und seine Fingernägel blutig waren. Er hatte keinen Plan. Da kauerte er im Gebüsch, statt bequem im Bett zu sitzen vor einem Teller mit Rührei oder Waffeln, während in CNN über die Solidarno ść oder die Unruhen im Iran gebrabbelt wurde, aber wieso? Weil er etwas tun mußte, irgendwas – er konnte sich nicht einfach umdrehen und zu ihrem Prügelknaben werden. Oder?
    Lange Zeit –

Weitere Kostenlose Bücher