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Ein Freund des Verblichenen

Ein Freund des Verblichenen

Titel: Ein Freund des Verblichenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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einen langen schwarzen Rock und eine hellrote Wolljacke an. In so einem Aufzug läuft man zu Hause nicht rum, und ich dachte, sie wollte ausgehen. Diese Vermutung stimmte mich froh.
    »Ich hatte Schulden bei ihm … Verstehen Sie … Verzeihen Sie, ich weiß Ihren Namen nicht …«
    Meine Stimme klang so unsicher, daß die Anspannung auf ihrem Gesicht etwas nachließ und ich von ihrem Gesichtsausdruck her schließen konnte, daß sie mich gleich hereinbitten würde.
    »Marina.« Sie streckte mir ihre Hand hin.
    Ich nannte meinen Namen.
    »Kommen Sie herein«, sie trat ein wenig zurück. »Nur bitte leise – Mischa schläft.«
    Ich nickte.
    Sie führte mich in die Küche.
    »Möchten Sie einen Kaffee?«
    »Ja.«
    »Es tut mir sehr leid, daß das mit Kostja passiert ist …«, fing ich an. »Sie haben es jetzt sicher nicht leicht …«
    Sie stand am Herd, drehte sich bei meinen Worten um und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an.
    »Wissen Sie«, sagte sie mit müder Stimme. Zwischen den einzelnen Worten waren lange Pausen, »… es ist so merkwürdig … Sie sind der erste Mensch, der einfach so sein Beileid ausspricht … Als er nicht mehr da war, haben viele Leute angerufen, die sich nur von seinem Tod überzeugen wollten. Entweder glaubten sie nicht, daß er tot war, oder sie dachten, daß sie betrogen würden. Und ich hörte an ihrem Tonfall, daß sie unzufrieden waren. Sein Tod hat ihnen nicht gefallen. Aber keiner von denen hat auch nur einmal sein Mitleid mit uns geäußert, keiner hat gefragt, wie wir ohne ihn leben können … Haben Sie ihn gut gekannt?«
    »Nein, ehrlich gesagt, nicht sehr … wir hatten geschäftliche Beziehungen …« Ich zog den Umschlag aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch. »Aber ich wußte, daß man sich immer auf ihn verlassen konnte … Er war immer bereit zu helfen … Hier …«
    Marina hörte mir zu, aber sie sah mich nicht an, sie kochte Kaffee. Und deshalb fiel es mir schwer zu reden. Ich verstummte.
    Die Stille dauerte ein paar Minuten. Dann setzte sie sich mir gegenüber.
    Wir tranken Kaffee.
    Sie betrachtete den Umschlag. Nach einer Weile nahm sie ihn in die Hand und sah hinein.
    Ich wartete auf eine Reaktion, vielleicht auf Dankbarkeit, wenn nicht in Worten, so doch in einer Geste. Aber es zuckte kein Muskel in ihrem Gesicht.
    »Es ist schwer, es ist sehr schwer ohne ihn«, begann sie langsam mit gesenktem Kopf zu sprechen. »Mit ihm war es auch manchmal schwer, aber nicht so wie jetzt … Ich sitze hier und werde zum Tier. Der Kleine ist ja noch winzig, in so einer Kälte kann ich mit ihm nicht auf die Straße … Und allein lassen kann ich ihn auch noch nicht. Kostjas Eltern rufen nicht an. Sie denken, daß ich sie nach seinem Tod hasse …«
    »Vielleicht könnte ich Ihnen irgendwie helfen? …«
    »Danke«, sagte sie und nickte. »Ich muß nur den Winter überstehen, dann wird alles leichter …«
    Ich sah sie an, sie saß mir gegenüber und starrte mit gesenktem Kopf auf den Tisch. Sie war schöner als auf dem Foto, viel schöner. Das war nicht verwunderlich. Und das nicht nur, weil es ein Schwarzweißfoto war und die Farben, mit denen ich in meiner Phantasie versucht hatte, ihr Gesicht zu beleben, eher einer alten bräunlichen Retusche ähnelten. Aber die Müdigkeit, die ich in ihrem Gesicht gesehen hatte, existierte trotz allem. Sie existierte in ihrer Stimme, in ihren Bewegungen, in der Art, wie sie am Tisch saß.
    Der Kaffee war ausgetrunken.
    Ich stand auf.
    »Soll ich Ihnen meine Telefonnummer dalassen? Vielleicht brauchen Sie irgendwann einmal Hilfe?«
    Sie war einverstanden, ich schrieb ihr meine Nummer in ihr Adreßbuch.
    Ich verabschiedete mich schnell und ging.
    Unweit von ihrem Haus fiel mir plötzlich ein, daß ich ihre Nummer gar nicht hatte. Ich blieb stehen, suchte mit meinem Blick ihr Fenster im dritten Stock. Aber ich hatte nicht einmal darauf geachtet, in welche Richtung die Fenster blickten. Aber das war ja auch nicht wichtig. Und daß ich ihre Telefonnummer nicht hatte, war auch nicht schlimm … Vielleicht rief sie ja irgendwann mal von allein an?!
    Und so setzte ich meinen Weg fort.

26
    Früher hätte ich nie gedacht, daß sich die Begleichung einer Schuld so auf die Stimmung auswirken kann. Für mich war das eher ein etwas literarischer Topos, so was aus den Erzählungen über Pawlik Morosow. Und sogar zu dem Wort Schuld hatte ich ein mehr oder weniger sarkastisches Verhältnis, natürlich nur, wenn es sich nicht um Geldschulden

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