Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Freund des Verblichenen

Ein Freund des Verblichenen

Titel: Ein Freund des Verblichenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
Vom Netzwerk:
betrachtete ich sie mit großem Interesse, aber sowie der Traum zu Ende war, spürte ich eine erleichternde Befreiung, die Befreiung, daß alles nur ein Traum gewesen war. Nicht weil ich die Realität den Träumen vorziehe. Nein. Aber ich liebe meine eigenen Phantasievorstellungen, mit realen Personen und nicht wie im Zeichentrickfilm handelnden Figuren, mehr als Träume.
    Wenn das Leben tatsächlich ein ewiger Kampf gegen die Einsamkeit ist, dann sind solche Phantasien eine der billigsten und wirksamsten Arzneien.
    Ich trank Tee und dachte an die Frau, vor der ich so unendlich schuldig war. Ich dachte an die Frau, von der ich absolut nichts wußte. Nicht einmal ihren Namen kannte ich.
    Gegen Abend fuhr ich nach Podol, wild entschlossen, von Dima so viel wie möglich über die Familie zu erfahren, die dank meiner Depression von neulich aufgehört hatte zu existieren.
    Immer noch schneite es dicke Flocken, die langsam durch die Luft schwebten. Die Kälte war kaum zu spüren, und ich hatte keine Lust, mich abzuhetzen. Es herrschte eine märchenhafte weihnachtliche Atmosphäre von Ruhe und Frieden.
    In dem schmalen Raum zwischen den beiden Reihen von Geschäften und Kiosken hielten sich mehr Menschen als gewöhnlich auf.
    Als ich mich Dimas Kiosk näherte, blieb ich verwirrt stehen. Vor mir, direkt vor meinen Augen, begannen die Schneeflocken eine schwarze abgebrannte Ruine einzuschneien. Die Leute, die vorbeikamen, blickten neugierig auf das verkohlte kleine Geschäft.
    Ich stand regungslos da.
    Neben mir blieb eine kleine, bucklige alte Frau in einem dunkelgrünen Mantel mit einem schwarzen Persianerkragen stehen.
    »Es hat heute morgen gebrannt«, sagte sie. »Ich habe alles gesehen. Ein junger Mann hat eine Benzinflasche reingeworfen, und der andere hat geraucht und die Zigarette hinterhergeworfen. Und es ist gleich alles explodiert. Der Verkäufer ist rausgestürzt und hat sich im Schnee gewälzt, seine Jacke hat gebrannt …«
    Meine Welt fiel wieder einmal in sich zusammen, verringerte sich auf das absolute Minimum. Wo ich jetzt Dima suchen sollte, wußte ich nicht. Ich hatte weder seine Adresse noch seine Telefonnummer. Es gibt in der Ukraine keine öffentlichen Telefonbücher.
    Dazustehen und zuzusehen, wie der Schnee die Spuren des Feuers bedeckte, wurde mir bald langweilig, und ich lief in die Bratskaja-Straße.
    Ich hatte einfach Lust, ein paar vertraute Gesichter zu sehen.
    Im Café war es ruhig. An meinem Tisch saß ein älteres Ehepaar und trank schweigend Wodka. Ich vermutete, daß ihnen ein Unglück widerfahren war, denn sie waren sehr anständig angezogen und sahen nicht nach Gewohnheitstrinkern aus.
    Die Kellnerin lächelte freundlich, als sie mich sah.
    Mit einem doppelten ›Keglewitsch‹ saß ich dort, bis das Café schloß.

24
    Die Tage vergingen. Niemand rief an. Draußen gingen mit einer erstaunlichen Hartnäckigkeit Schneeflocken zu Boden. Ein unendlicher weißer Strom.
    Wenn mein Blick auf das Fenster fiel, verhexte mich dieser Schneefall geradezu. Als wenn meine Gedanken Angst vor diesem Schnee hätten. In solchen Momenten verbargen sie sich, und ich blieb allein mit dem Schnee, aber nicht als Mensch, sondern als einfaches Tier mit Augen – Wolf oder Hase. Irgend etwas starb in meinem Innern, und ich konnte zehn bis fünfzehn Minuten vor dem Fenster stehen, bis ein beliebiges Geräusch von außen meine Aufmerksamkeit vom Schnee ablenkte. Und dann erwachte ich, oder besser, es erstand in mir der gewöhnliche Mensch.
    Und dieser Mensch wollte Tee trinken und stellte den Teekessel auf den Gasherd. Dieser Mensch begann nachzudenken, und seine Gedanken beeinflußten seine Stimmung. Gewöhnlich dachte er über seine Einsamkeit nach, dann über diejenigen, die ihn retten, ihn aus dieser Einsamkeit herausziehen könnten, aber es nicht taten. Dann einfach so über Frauen, weil es nach Meinung dieses Menschen immer die heilige Pflicht der Frauen war, die Einsamkeit der Männer zu bekämpfen. Irgendwann seufzte er tief. Aus seinem Mund kam das Wort: »Unsinn!«
    Dann herrschte eine kleine Zeitlang Stille im Kopf. Und verstohlen, vorsichtig, langsam tauchte das Bild einer Frau auf. Er wußte, wessen Bildnis das war. Er hatte nichts gegen sein Erscheinen. Vielleicht war er sogar ein bißchen froh. An diese Frau dachte er ohne Eile. Und manchmal dachte er überhaupt nicht, sondern hielt nur für eine Weile ihr Bild in sich fest.
    Es schneite und schneite. Die Schneeflocken vermehrten sich entschieden

Weitere Kostenlose Bücher