Ein Freund des Verblichenen
…«
»Nicht nötig!« schnitt ich ihm scharf das Wort ab. »Nicht mehr nötig!«
Er nickte verständnisvoll und seufzte. Dann trank er seinen Wodka.
»Warst du mit ihm befreundet?« fragte ich vorsichtig.
»Was gibt es heute schon noch für eine Freundschaft? Es gibt keine Freundschaft mehr. Es gibt Geschäftsbeziehungen. Kostja konnte man vertrauen. Er war ein guter Kerl. Aber was soll es, so ist das Leben … Irgend jemand wird an seine Stelle treten.«
›Irgend jemand wird an seine Stelle treten?!‹ wiederholte ich in Gedanken Dimas Worte. Ich wiederholte sie und dachte: ›Was hatte er eigentlich damit gemeint?‹ Der Sinn dieses Satzes verdoppelte und verdreifachte sich sogar, und das völlig ohne Beteiligung des Limonenwodkas. Es war einfach der Reichtum der Sprache, der ›großen und mächtigen‹ Sprache, wie es früher pathetisch hieß.
Und ich war geradezu widerlich nüchtern. Erneut goß ich mir und Dima nach. Obwohl er schon ziemlich abgeschlafft war.
Die Dollar lagen die ganze Zeit auf dem Tisch, aber mehr auf seiner Seite als auf meiner. Mir wäre wohler gewesen, sie hätten nicht dagelegen. Sie zogen magnetisch meine Aufmerksamkeit an, mir fiel es immer schwerer, meinen Blick loszureißen. Dima entging das nicht, und in seinen zusammengekniffenen, entweder vom Licht oder vom Wodka müden Augen bemerkte ich einen Funken von Ironie.
Unter dem Ladentisch zog er ein großes Wasserglas hervor und schüttete den Wodka aus seinem Gläschen hinein. Dann füllte er das Glas aus der Flasche bis an den Rand auf. Er sah mich mit einem bitteren Lächeln an, nickte, sagte »Na los!« und kippte den Wodka hinunter. Dann nahm er mit seinen dicken Fingern einen Zwanziger in seine Hand, zerknüllte ihn zu einer Kugel und schnupperte daran.
Darauf reagierte ich gar nicht. Vielleicht erwartete er auch gar keine Reaktion und war einfach betrunken. Ich beneidete ihn darum, er war so weit von jeder Realität entfernt, daß ich ihn nicht einholen konnte. Um so mehr, als ich zu Hause schlafen wollte.
23
Ein später Wintermorgen. Ich hatte keine Kopfschmerzen und fühlte mich überhaupt erstaunlich frisch. Aber an das gestrige Gespräch mit Dima erinnerte ich mich nur noch mit Mühe und lediglich bruchstückhaft. Aber nicht nur was das Gespräch betraf, hatte ich einen Filmriß, in meiner Jackentasche fand ich einen Packen Dollar und einen zerknüllten Zwanzigdollarschein extra. Das war das Geld, das auf dem Tisch gelegen hatte, aber wie es in meine Tasche geraten war, daran konnte ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Am wahrscheinlichsten war, daß Dima es mir selber in die Tasche gestopft hatte, aber wie hatte ich das nicht bemerken können? Er war doch noch viel betrunkener gewesen als ich.
Vor dem mit Eisblumen bemalten Küchenfenster fielen dicke Schneeflocken.
Ich frühstückte. Die Wanduhr tickte. Das Brot mit Kochwurst krachte zwischen meinen Zähnen. Der Teekessel kochte.
Innerlich war ich ganz ruhig. Dima wußte nichts, und woher sollte er auch was erfahren? Jetzt konnte ich ohne jede Angst und Nervosität mit ihm sprechen, ihn über Kostja und seine Frau ausfragen. Obwohl Kostja mich schon nicht mehr interessierte. Aber an seine Frau, deren müdes Gesicht mich oft von dem kleinen Foto aus ansah, dachte ich ständig. Manchmal kam es mir so vor, als kenne ich sie, als wären wir uns schon begegnet. Und eben in solchen Momenten, wenn meine Phantasie eine Zeitlang das Gefühl für die Realität verdrängte, fühlte ich mich erstaunlich selbstsicher und glücklich. Woher kamen diese Phantastereien?
Kälte verkleinert Dinge, verringert Umfänge, das wußte ich noch aus der Schulphysik. Jetzt schien mir, daß sich diese Regel auch auf Dinge erstreckte, die kein physisches Volumen hatten. Der Winter verkürzte alles, preßte die Tage zusammen. Dieser Winter machte meine Welt kleiner, zwang mich, den größten Teil des Tages zu Hause in der Wärme zu verbringen. Aber jetzt lebte ich allein, und mir wurde klar, daß der Winter das Gefühl von Einsamkeit verstärkt. Einsamkeit unterliegt nicht den Gesetzen der Physik.
Die Einsamkeit wurde zur Luft, die ich atmete.
Sie beherrschte meine Träume, manchmal schob sie mir denselben Traum mehrere Male hintereinander unter und verwandelte die nächtliche Erholung in Moralpredigten. In diesen Träumen existierten wie in Serienfilmen eigene Helden und eigene Themen, und es gab eine Heldin, schön, leicht, grünäugig und blond. Und in den Träumen
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