Ein Freund des Verblichenen
handelte. Aber Geldschulden hatte ich immer zu vermeiden versucht. Und jetzt, in meinem fünfunddreißigsten Lebensjahr, hatte das Wort Schuld für mich zum erstenmal den Klang eines normalen eigenständigen Begriffs. Ja, ich spürte sogar einen Seelenfrieden bei dem Wort. Eine Art von Zufriedenheit oder Selbstzufriedenheit stellte sich ein. Ich dachte gut von mir. Und alles aus dem Gefühl heraus, eine Schuld beglichen zu haben, die sich hinter einer völlig anderen Schuld, nämlich einer Geldschuld versteckte.
Sicherlich deshalb begann der Morgen für mich ungewöhnlich früh. Voller Energie wanderte ich in meiner Wohnung umher, ohne zu wissen, was ich mit der neugewonnenen Lebenslust anfangen sollte.
Ein neuer Tag begann. Und ich wollte etwas Neues. Ein neues Leben? Neue Empfindungen? Ich weiß es nicht. Wohl eher neue Illusionen.
Es wurde merklich hell. Die Natur zog den Vorhang auf, hinter dem der neue Tag begann. Und daß ich an diesem Tag Zeuge war, wie dieser Vorhang aufgezogen wurde, gab mir ebenfalls die Überzeugung, daß es ein wirklich neuer Tag würde und daß eben an diesem Tag etwas Neues in meinem Leben begänne.
Der wolkenlose Himmel schimmerte mattblau. Die von meinem Zimmer aus unsichtbare Sonne schickte ihre zärtlich gelben Strahlen auf den funkelnden Schnee. In den Fenstern des gegenüberliegenden Hauses hatten schon alle das Licht gelöscht. Ich sah auf die Uhr – es war Viertel vor zehn.
Aber der Tag erfüllte meine Erwartungen nicht. Abends rief Lena-Wika an.
»Bist du wieder gesund?« fragte ich sie.
»Ja. Und hattest du Sehnsucht nach mir?«
»Ich habe mich sehr einsam gefühlt …«, gestand ich.
»Ja?!« ertönte ein Aufschrei fröhlicher Verwunderung im Hörer, und ich hörte in diesem Aufschrei ein zufriedenes Lächeln.
»Ich kann kommen. Was meinst du?«
Ich hätte lieber ihr gewöhnliches »In einer Stunde bin ich da« gehört als diese Frage, die meine Bestätigung erforderte.
»Natürlich, komm her!« sagte ich.
»Du hast heute so eine komische Stimme«, sagte sie nachdenklich und fügte dann schon lebhafter hinzu: »In einer Stunde bin ich da.«
Und sie legte auf.
Ich setzte mich an den Küchentisch und begann auf sie zu warten. Und während ich wartete, wurde mein Wunsch, sie zu sehen, sie zu umarmen, immer stärker. Ich war ärgerlich auf sie, ärgerlich wegen meiner langen Einsamkeit. Aber es waren noch keine zehn Minuten seit ihrem Anruf vergangen, als ich ihr schon verziehen hatte. Auch deshalb, weil sie mich brauchte. Vielleicht dachte sie mehr oder weniger genau dasselbe von mir, nämlich daß ich sie brauchte. Und deswegen erinnerte sie sich an mich. Aber diese seltenen Begegnungen, dieser unsichtbare, aber in unserer Beziehung existierende Zeitplan, aufgrund dessen sie mal auftauchte, mal verschwand, ließ befürchten, daß unsere Beziehung nicht sehr lange halten würde und sehr zerbrechlich war. Ihr Doppelleben, ihr Doppelname brachten mich auf den Gedanken, daß ich nicht alles von ihr bekam, wenn ich sie umarmte, wenn ich sie küßte oder mit ihr schlief. ›Na und?‹ widersprach ein anderer Gedanke. Die Devise ›Alles oder nichts‹ führt zu nichts Gutem. Wer alles will, bekommt meistens gar nichts. Ich selbst war ja auch nicht zu einer völligen Aufopferung für einen andern Menschen bereit, noch nicht einmal für eine Frau.
Mein Gedankengang wurde vom Klingeln an der Haustür unterbrochen, ich sprang auf und lief zur Tür. Die Freude, mit der ich die Tür aufriß, um sie so schnell wie möglich zu sehen, war für mich selbst unerwartet.
Noch auf der Schwelle umarmte und küßte ich sie. Und sie riß sich lachend von mir los.
»Laß mich doch erst mal den Mantel ausziehen! Ich bin ja nicht bloß für eine Minute gekommen!« Sie lachte und schien wirklich glücklich zu sein.
Schließlich ließ ich sie los. Sie zog sich ihre lange schwarze Jacke aus, die einen Pelzbesatz am Rand der Kapuze hatte. Jetzt stand sie in schwarzen Hosen und einem smaragdfarbenen Pullover da. Sie hängte die Jacke an einen Haken und stürzte sich immer noch lachend auf mich.
»Hattest du Sehnsucht? Na, hattest du Sehnsucht? Ja?«
Später, als die Leidenschaft etwas nachließ, holte sie eine Flasche Sekt aus ihrer Tasche und eine Tüte mit Lebensmitteln. Die packte sie in der Küche aus, und ich bekam plötzlich Hunger. Die letzten beiden Wochen hatte ich mich zwar irgendwie ernährt, aber hauptsächlich mit Wurststullen. In meiner Faulheit waren sogar gekochte
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