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Ein Freund des Verblichenen

Ein Freund des Verblichenen

Titel: Ein Freund des Verblichenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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über ihre Bitte, am Telefon stehen.
    »Wer war das?« fragte Lena und zeigte auf das Telefon.
    »Marina. Erinnerst du dich, ich habe dir erzählt, daß ich das Geld zurückgebracht habe …«
    »Und was will sie?«
    »Sie hat mich gebeten, zwei Stunden auf ihr kleines Kind aufzupassen …«
    »Dich?« wunderte sich Lena. »Und? Kannst du Windeln wechseln?«
    Sie lachte.
    Aber mir war nicht zum Lachen zumute.
    »Das schaffst du schon!« Lena klopfte mir auf die Schulter. »Wie alt ist denn das Kind?«
    Ich zuckte mit den Schultern.
    »Ein paar Monate, glaube ich …«
    »Und du kannst Kindergeschrei ertragen?« fragte Lena lächelnd.
    »Ich weiß nicht, ich hatte noch nie die Gelegenheit«, versuchte ich zu scherzen, aber zu einem Lächeln reichte es nicht.
    Ich war zu sehr von Marinas Bitte überrascht und überhaupt von ihrem Anruf, der in unsere provisorische gemeinsame Welt irgendwie aggressiv eingedrungen war. Der Anruf hatte etwas beschädigt, nicht nur die Stille. Er zwang mich, an Kostja zu denken, an diese ganze Geschichte. Und meine Gedanken schweiften durch die jüngste Vergangenheit, als wollten sie da was auffinden. Einen Augenblick lang vergaß ich sogar Lena, aber dann erinnerte ich mich plötzlich wieder an sie und ging zu ihr, um mich besser gegen die hereinbrechende Vergangenheit zu wehren. Ich sah ihr ins Gesicht und versuchte, auf diese Art und Weise alles aus meinem Kopf zu verjagen, alles außer ihrem Anblick.
    »Was hast du?« fragte sie erschrocken. »Deine Hände zittern ja!«
    »Halt mich ganz fest!« bat ich, zu kraftlos, um zu lächeln. Aber ich bemühte mich, so sanft wie möglich zu sprechen, damit meine Stimme mein Lächeln ersetzte.
    Einige Minuten standen wir fest umschlungen da. Ich atmete den Duft ihrer Haare ein und flüsterte wie eine Beschwörung: »Ich liebe dich! Ich liebe dich!« Und ich dachte nicht an die Bedeutung dieser Worte. Als wenn ich mich selber beruhigte.
    Aber ein bißchen später, vielleicht nach einer halben Stunde, begriff ich, daß Lena für mich das war, was für sie die Musik Corellis. Sie bedeutete für mich Beruhigung und Frieden. Und die Worte ›Ich liebe dich!‹ waren in höchstem Grade mein Ausdruck von Dankbarkeit. Sozusagen wie tausendmal ›Dankeschön‹, die ihre ganze Ladung, ihre ganze Energie in diesem einen kurzen Satz konzentrierten. Ich hatte mir das nicht ausgedacht. Ich hatte nur den Sinn dieses Satzes verstanden, der, wie mir jetzt schien, normalerweise zur Unzeit gebraucht wird, in Situationen, die einfachere und alltäglichere Ausdrücke erfordern.
    Ich war glücklich und konnte schon wieder lächeln, nur daß Lena, die ich immer noch an meine Brust preßte, es noch nicht sehen konnte.

28
    Es war schon dunkel, als ich zu Marinas Haus kam. Sie machte die Tür genau in dem Moment auf, als ich klingelte, ich hatte noch nicht einmal die Hand vom Klingelknopf genommen. Als hätte sie hinter der Tür Wache gestanden.
    »Gut, daß Sie doch noch gekommen sind«, sagte sie. »Kommen Sie herein, legen Sie ab … Ich muß in fünf Minuten gehen … Ihre Jacke können Sie hierhin hängen, ist es Ihnen darin nicht zu kalt draußen? Hier haben Sie Pantoffeln …«
    Ich zog meine Schuhe aus.
    »Ich mache schnell Kaffee … Kommen Sie erst mal in die Küche. Ich bin so froh, daß Sie kommen konnten … Ich bin so müde, aber heute muß ich unbedingt dahin … Ich wollte erst eine von meinen alten Freundinnen bitten, auf Mischa aufzupassen, aber ich habe sie nach der Beerdigung nicht mehr gesehen und gefürchtet, daß dann die Erinnerungen wieder hochkommen, Tränen …« Es war offensichtlich, daß Marina es tatsächlich eilig hatte, denn sie redete schnell und undeutlich, als wenn sie sich selber nicht hörte.
    Sie hatte Jeanshosen und eine Jeansjacke an, darunter einen grünen Pullover. Erst jetzt bemerkte ich, daß sie kastanienbraune Augen hatte. In der Luft hing noch ein süßlicher Parfumgeruch, und selbst der Duft des Kaffees war, als ich die kleine Keramiktasse in der Hand hielt, schwächer als dieser Geruch.
    »Um sieben füttern Sie den Kleinen, die Flasche steht hier, auf der Heizung … Wenn Sie Hunger haben, nehmen Sie sich bitte alles, was Sie im Kühlschrank finden … Gegen acht komme ich zurück. Ach ja, wenn er anfängt zu weinen, dann sind dort unter seinem Bettchen Wegwerfwindeln, das geht ganz einfach, auf der Packung ist genau beschrieben, wie man sie wechseln muß.«
    Sie schaffte es noch, mich in das Zimmer zu führen und mir

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