Ein Freund des Verblichenen
zu Hause an.
»Wo stehst du denn?« fragte Lena.
»Sie ist noch nicht da, was soll ich machen?« fragte ich verwirrt und bemerkte, daß meine Gereiztheit während des Gesprächs tatsächlich in Ratlosigkeit umschlug.
»Das ist ja ein Herzchen!« wunderte sich Lena. »Und sie hat nicht angerufen?«
»Nein.«
»Was soll ich denn machen?!« Ich sah förmlich, wie Lena neben meinem Telefon zu Hause mit den Schultern zuckte. »Du kannst ihn ja nicht allein dalassen … Warte einfach. Dann werde ich eben ohne dich essen, ich habe schon Hunger. Aber ich lasse dir was übrig!«
»Sag mal, sollte ich das Baby nicht wecken? Muß es nicht was trinken?«
»Du fragst mich, als wäre ich eine ›Heldenmutter‹! Wenn du willst, weck es!«
»Na, bis dann!« Ich beeilte mich, unser Gespräch in friedlichem Ton zu beenden.
»Ich küsse dich!« sagte sie und legte auf.
Ich kehrte ins Zimmer zurück und blieb vor dem Kinderbettchen stehen, beugte mich hinunter und sah, daß das Kind aufgewacht war, seine kleinen Äuglein standen offen. Es sah mich an und bewegte die Lippen. Erleichtert seufzte ich, lief die Flasche holen und beugte mich wieder über das Kind. Ich spielte mit der Flasche vor seinem Gesicht und erwartete etwas wie ein Lächeln, aber der Gesichtsausdruck des Kleinen veränderte sich nicht. Nur seine Augen öffnete er etwas weiter. Ich führte die Flasche mit dem Schnuller an seinen Mund, aber er schien es nicht zu bemerken. Er sah mich an, und in dem Blick seiner winzigen Augen – ich sah nicht einmal seine Pupillen – schien mir Kälte und Feindseligkeit zu liegen. Ich versuchte ihm den Schnuller in den Mund zu schieben, aber er biß geradezu die Zähne zusammen. ›Na, dann geh doch zum Teufel!‹ dachte ich. ›Wenn du hungrig bleiben willst, bitte sehr! Und ich werde meine Nerven schonen, die sind in letzter Zeit sowieso überstrapaziert!‹
Ich trug die Milchflasche in die Küche und setzte mich wieder an den Küchentisch. Wenn ich rauchen würde, wäre das jetzt der beste Moment für eine Zigarette, aber der liebe Gott hat mich vor dieser Versuchung bewahrt. Entspannen konnte ich mich nur mit Kaffee oder Alkohol. Kaffee wollte ich keinen. Ich guckte in den Kühlschrank. In der Seitentür auf dem obersten Fach stand eine angefangene Kognakflasche. Aber ich hatte keine Lust auf Kognak.
In der Stille der Küche hatte sich immer noch der süßliche Duft des Parfums gehalten. Die Stille unterstrich gleichsam diesen Duft, vereiste das Gehör, da jegliches Geräusch fehlte. Die aufkommende Müdigkeit des zu Ende gehenden Tages spürte ich zuerst an meinen Augen. Ich hatte Lust, sie zu schließen, aber nicht, um einzuschlafen. Sie waren es einfach leid, diese Wohnung, dieses Kind, das mich reizte und gleichzeitig mit seiner Stummheit und Starrheit erschreckte, zu sehen und zu betrachten. So schloß ich die Augen und dachte: ›Mein Gott, was mache ich hier eigentlich?‹ Und wie die Antwort des Herrgotts selbst kam mir eine ruhige Antwort als Erklärung in den Sinn. ›Du bezahlst deine Schuld.‹ ›Schon wieder?‹ ›Ja, wieder. Und nicht zum letzten Mal. Du wirst lange in ihrer Schuld stehen.‹ ›Für immer?‹ ›Nein, hab keine Angst. Nur solange du dich an ihn erinnerst.‹
Und ich wollte alles vergessen, doch je mehr ich versuchte zu vergessen, desto stärker drängte sich mir das Bild des regnerischen Herbstabends auf, die Splitter des zerklirrenden Glases auf dem unsichtbaren Asphalt des dunklen Hofs und der Schein der Taschenlampe – das runde gelbe Auge, das neugierig den auf dem unsichtbaren Asphalt liegenden Körper betrachtete.
Ich holte mir nun doch den Kognak aus dem Kühlschrank und goß mir ein wenig in die Teetasse ein.
Ich trank ihn wie Medizin. Ohne Gedanken an den Anlaß.
Es ging schon auf zehn zu, in der Küche hing auch eine Uhr, eine runde Wanduhr.
Nach dem Kognak hatte ich Lust, etwas zu essen, und ich machte mir wieder zwei belegte Brote.
Während ich aß und die Bewegungen meiner Kiefer hörte, vergaß ich das Kind und Marina. Dann schien mir, als ob das Kind im Zimmer weinte, ich erstarrte und lauschte. Aber das war kein Weinen. Eher ein eintöniger Laut, es hätte auch eine Sinnestäuschung sein können.
So ging ich nicht ins Zimmer, sondern blieb in der Küche, als wäre dies der einzige Platz in dieser Wohnung, wo ich mich sicher fühlte. Ich trank noch einen Kognak, und nachdem ich glücklich das Kind verdrängt hatte, stritt ich mit mir selber über den Sinn, meine
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