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Ein Freund des Verblichenen

Ein Freund des Verblichenen

Titel: Ein Freund des Verblichenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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›Ich habe schon einige Male seine Pantoffeln angehabt, und nichts ist passiert. Sie passen mir wie angegossen … Und wenn sowieso immer jemand an die Stelle eines anderen tritt, warum kann ich dann nicht an seine Stelle treten?‹

33
    Es war noch eine Woche bis Neujahr. Die Stadt hatte sich festlich geschmückt und versuchte, seine Bewohner von dem schweren Alltag abzulenken. Die Kinder spielten mit Schneebällen ›Bürgerkrieg‹. Im Radio gaben sie die heiligsten Versprechen, die nächste Freigabe der Brot- und Milchpreise nicht bis zum bitteren Ende durchgehen zu lassen. Endlich tauchte Lena auf. Mit einer Flasche Champagner und einer kleinen Schachtel, die mit einem purpurroten Band festlich umschlungen war.
    »Hier hast du ein Geschenk«, sagte sie. »Zu Neujahr.«
    Ich küßte sie.
    »Danke. Darf ich das jetzt auswickeln oder lieber erst in der Neujahrsnacht?«
    »Wie du willst.«
    »Und was ist mit Neujahr?« fragte ich.
    »Darüber reden wir morgen«, antwortete Lena.
    Als sie nach dem Abendbrot vorschlug, auf das neue Jahr anzustoßen, war ich mir noch sicherer, daß wir die Feiertage getrennt verbringen würden. Aber ich sagte nichts. Und beschloß, auch nicht traurig zu sein, sondern im Gegenteil den heutigen Abend so gut wie möglich auszukosten.
    Was ich auch tat.
    Wir schliefen erst gegen Morgen ein und wachten mittags auf.
    Ich ging in die Küche und kochte Kaffee.
    »Wie ist es nun mit Neujahr?« fragte ich, als ich wieder unter die Bettdecke kroch und mich über die auf dem Boden stehende Tasse beugte.
    Lena seufzte.
    »Es geht nicht«, sagte sie. »Mich haben sie zu einem ›kleinen Bankiers-Decameron‹ eingeladen … Verstehst du … ich muß an meine Zukunft denken … Ich spare auf eine Einzimmerwohnung …«
    Ich nickte. Das Wort ›kleines Decameron‹ rief bei mir ein Lächeln hervor. Wie wichtig es doch trotz allem war, ein passendes Wort auszuwählen, und wenn es zu dürftig ausfiel, sich eins auszudenken. ›Kleines Bankiers-Decameron‹ – das war ein fast literarischer Abend, unter Teilnahme junger Bankiers. Eine tolle Idee! …
    Aber was sollte ich tun?
    Das Problem der Wahl war gelöst. Bevor Lena aber bis nach Neujahr verschwand, bat sie mich, das Päckchen mit ihrem Neujahrsgeschenk aufzumachen. Ich öffnete es und zog ein Bündel von verschiedenfarbenen Socken heraus.
    »Da hast du was für das ganze Jahr!« Lena lächelte. »Und deine löchrigen Socken schmeiße ich das nächste Mal aus dem Fenster!«
    Als ich wieder allein war, rief ich Marina an, dankte ihr für die Einladung und sagte, daß ich käme. Und ich hörte an ihrem Atmen, daß sie sich freute.
    Jetzt mußte ich ihr ein Neujahrsgeschenk kaufen.
    Den nächsten Tag widmete ich der Suche nach einem Geschenk. Ich wanderte von Geschäft zu Geschäft, ging in die größeren Läden und beobachtete aufmerksam, was andere Männer kauften.
    Das Vorgefühl eines neuen Lebens bemächtigte sich meiner, eines ruhigen und stabilen Lebens. Eine Vorahnung von zukünftiger Behaglichkeit, von all dem, wonach ich strebte.
    Ich wußte noch nicht, daß der kleine Mischa in drei Monaten sein erstes Wort sprechen würde. Auf meinen Knien sitzend, würde er »Papa!« sagen. Alles, was er danach sagen würde, wäre nicht mehr so wichtig. Der frühere Klassenkamerad Dima würde auftauchen und dabei helfen, die vom seligen Kostja gesparten zwölftausend Dollar mit guten Prozenten ›anzulegen‹. Und Marina und ich würden still und kleinbürgerlich fröhlich leben, uns mit neuen Bekannten treffen und die alten meiden.
    Und die Schlüssel von meiner Einzimmerwohnung würde ich Lena geben, und von Zeit zu Zeit würden wir am Telefon miteinander plaudern.
    Das Leben würde in Ordnung kommen und mich endgültig besiegen.
     
     

Epilog
    Einige Tage nach dem ruhigen gemütlichen Neujahrsfest zu Hause, als ich schon auf Marinas Drängen meine Sachen zu ihr gebracht hatte, kam eine Postkarte mit der Aufforderung, dringend eine Rechnung für ein Postfach zu bezahlen. Als ich mir den Stempel anguckte, fand ich heraus, daß die Karte vom Postamt Nr. 25 kam.
    Das haute mich fast um. Ich erinnerte mich, wie ich auf diese Post gegangen war und im Fach dreihundertdreiunddreißig den Umschlag mit dem Foto und den Informationen hinterlegt hatte. Ich erinnerte mich, daß in meiner Einzimmerwohnung noch eine Tüte mit allen möglichen Kleinigkeiten lag, die ich in Kostjas Jacke gefunden hatte, und daß darunter bestimmt auch der Schlüssel dieses Postfaches

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