Ein Freund des Verblichenen
Klang der Kristallgläser belebte die Stille der Wohnung, ließ meine Anspannung weichen.
»Soll ich Musik auflegen?« fragte Marina, nachdem sie abgewartet hatte, bis ich meinen Wein ausgetrunken hatte.
Ich nickte. Sie holte aus dem Schlafzimmer einen Kassettenrecorder, stellte ihn an. Leichter Jazz ertönte.
»Mögen Sie das?« Sie sah mich dienstfertig an.
»Ja.«
Ich spürte, daß sie reden wollte, aber ich konnte kein Gespräch beginnen. In völliger Stille zu essen war auch unangenehm, darin lag etwas Trauriges, etwas von einem Leichenschmaus. Ich schenkte Wein nach – das war die leichteste Überbrückung der Pause.
»Darauf, daß alles Schlimme in diesem Jahr zurückbleibt und alles Gute ins neue Jahr übergeht!« brachte ich einen Toast aus und verstand in demselben Moment, daß man den auf vielerlei Weise interpretieren konnte.
Aber Marina nickte lächelnd und trank einen Schluck Wein.
»Gebe Gott, daß sich dieses Jahr nie wiederholt …«, seufzte sie, aber das Lächeln verschwand nicht aus ihrem Gesicht.
»Ich freue mich auch darauf, daß dieses Jahr zu Ende geht«, gestand ich. »Das war das schlimmste Jahr in meinem Leben«, fuhr ich fort und verstummte jäh. Ich sah Marina an und erschrak plötzlich vor ihren möglichen Fragen.
Aber Marina lächelte nur und dachte an etwas anderes. Sie lächelte leise und müde, und ich entschied, daß genau dieses Lächeln ihr sehr gut zu Gesicht stand.
»In der letzten Zeit habe ich mich so an die Stille gewöhnt«, begann Marina. »Und zu Anfang, als Kostja nicht mehr da war, habe ich gedacht, daß ich vor lauter Stille wahnsinnig werde. Eine ganze Woche lang hatte das Telefon geklingelt, alle fragten: Was ist passiert, was weißt du … und dann wie abgebrochen. Und Stille … In dieser Stille wurde ich klüger. Zuerst habe ich geweint, dann dachte ich – ich bin es ja nicht, die gestorben ist! Ich lebe ja noch! … Ich habe alle äußeren Zeichen der Trauer zum Teufel geschickt, alle Fotos … Wenn du schon weggegangen bist, dann geh ganz weg … Ein Toter sollte doch die Lebenden gut behandeln … Er sollte sich nicht dauernd in Erinnerung bringen … Sie entschuldigen, daß ich so über Kostja rede … Sie kannten ihn ja … Kommen Sie, duzen wir uns?«
»Ja gern«, sagte ich.
»Gieß noch ein«, bat Marina. Und redete gleich weiter, ohne ihr neu gefülltes Glas zu beachten. »Verstehst du, ich habe das Gefühl, daß ich schon lange alleine bin … Kostja … Er war dauernd weg, hetzte mit seinen Geschäften mal auf die Krim, mal nach Moskau. Im nächsten Jahr wollte er anfangen, Jura zu studieren. Er hat gesagt, daß in der Uni schon alles erledigt ist und daß alle diese Aufnahmeprüfungen eine reine Formalität sind. Er hat mir versprochen, daß er, sowie er anfängt zu studieren, diesen ganzen Handel aufgibt und zu Hause bleibt, mir und Mischa hilft … Geld hat er für einige Jahre im voraus verdient …«
›Was für einen Handel wollte er denn aufgeben?‹ dachte ich. Und in dem Moment begriff ich, daß Marina nichts über ihren Mann wußte. Aber das war auch völlig natürlich. Sie kannte den einen Kostja, und ich war einem ganz anderen begegnet. Schlußendlich sind beide umgekommen …
»Aber nun ist er nicht mehr da, und ich muß leben, ich muß Mischa großziehen …«, sagte Marina.
Endlich bemerkte sie ihr volles Glas und erhob es.
»Ich habe dich früher nicht gekannt, aber Kostja hat mir auch nichts von seinen Freunden erzählt. Und hierher sind sie nicht gekommen … Er wollte das nicht … Vielleicht fällt es mir deshalb so leicht, dir das alles zu erzählen … Entschuldige bitte … Na dann … vielleicht trinken wir auf das Glück im neuen Jahr!«
Der Klang der Kristallgläser paßte nicht zu dem leisen Jazz. Wir tranken die Gläser in einem Zug aus, und ich bemerkte, daß die Flasche schon fast leer war.
›Ich sollte nach Hause gehen!‹ dachte ich.
Da begann das Kind im Schlafzimmer plötzlich zu weinen, und Marina stand vom Tisch auf.
»Ich füttere ihn und bin gleich zurück.«
Ich blieb allein im Zimmer, stand aber ebenfalls auf, um mir ein bißchen Bewegung zu verschaffen. Als ich einmal um den Tisch gelaufen war, ging ich zum Fernseher und sah auf seiner polierten Oberfläche meine Schrift: »Guten Abend!« Die Buchstaben waren bereits von neuem Staub bedeckt, aber alles war noch lesbar. Ich zog sie nach und frischte den Abendgruß auf.
Als Marina zurücckam, versuchte ich mich zu verabschieden, aber das
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