Ein Ganz Besonderer Fall
schwollen an und veränderten ihre Farbe. Und weit im Süden, im verwüsteten Winchester, umringte die Armee der Königin die ehemaligen Belagerer, sperrte die Straßen, auf denen Vorräte kommen konnten, und begann, die Stadt auszuhungern. Es kamen nur wenig Neuigkeiten aus dem Süden und kaum Reisende, während hier im Norden die Früchte unbekümmert reiften.
Von allen fröhlichen Arbeitern bei der Ernte war Rhun der seligste. Vor nicht einmal drei Monaten war er noch lahm und von Schmerzen gequält gewesen, und nun lief er fröhlich und kräftig herum und konnte von seinem glücklichen Körper nicht genug bekommen und ihm kaum genug Mühen zumuten, um seine Dankbarkeit unter Beweis zu stellen. Er war noch nicht weit genug geschult, um mit Kopieren oder Studieren oder Kolorieren von Handschriften beschäftigt zu werden; er besaß eine angenehme Stimme, aber keine musikalische Bildung; und so gab man ihm Aufträge, die wenig Geschicklichkeit, aber dafür Kraft erforderten, und er fand Gefallen daran. Jeder, der ihn sich strecken und Dinge heben und ausschreiten, graben und hacken und schleppen sah, ihn, der vor kurzem noch sein eigenes geringes Gewicht als Krüppel und unter ständigen Schmerzen dahingeschleppt hatte, konnte nicht anders, als beim Beobachten dieselbe Freude zu empfinden wie er. Seine Vorgesetzten beobachteten seine Schönheit und seine Kraft mit liebevoller Bewunderung und dankten der Heiligen, die ihn geheilt hatte.
Schönheit ist eine vergängliche Gabe, doch Rhun hatte nie einen Gedanken auf sein Gesicht verwendet und wäre sehr erstaunt gewesen, wenn man ihm gesagt hätte, daß er ein so seltenes Geschenk sein eigen nannte. Jugend kann verletzen, versetzt sie doch allen Herzen einen Stich, die sie sehen und wissen, daß sie sie verloren haben.
Bruder Urien hatte mehr als seine Jugend verloren, aber er hatte sie noch nicht lange genug verloren, um sich resigniert in ihr Vergehen zu fügen. Er war siebenunddreißig Jahre alt und erst seit knapp einem Jahr im Kloster, ruiniert durch eine Ehe, die ihn an Geist und Seele gebeugt hatte. Die Frau hatte ihn verschmäht und verlassen, und er war kein sanftmütiger Mann, sondern von starken, brennenden Leidenschaften und einem unbeugsamen Willen geprägt. Die Verzweiflung hatte ihn ins Kloster getrieben, und da er hier keine Heilung fand, bissen ihn Entbehrung und Zorn drinnen genauso scharf wie draußen.
Sie arbeiteten Ende August bei der Ernte der ersten Sommeräpfel droben im düsteren Dachboden über der Scheune Seite an Seite. Sie legten die Früchte auf Holzregale, damit sie sich so lange wie möglich hielten. Das heiße Wetter hatte die Reife um mindestens zehn Tage beschleunigt. Hier drinnen lag ein schwach goldenes Licht, und sie bewegten sich durch die schweren Staubflocken wie durch einen schimmernden Dunst. Rhuns flachsblonder Kopf, der noch ungeschoren war, hätte auch ein Mädchenkopf sein können.
Sein zartes Gesicht schien, wenn er sich über die Regale beugte, glatt wie ein Rosenblatt, und die gekrümmten Wimpern, die seine Augen beschatteten, waren lang und glänzend.
Bruder Urien beobachtete ihn von der Seite, und sein Herz tat einen Sprung, es schrak auf und zuckte vor Schmerz.
Rhun hatte an Fidelis gedacht und wie diesem wohl der Ausflug in die Gaye gefallen hatte. Er fand nichts dabei, als die Hand seines Gefährten beim Auslegen der Äpfel die seine berührte, oder als ihre Schultern sich wie zufällig einen Moment trafen. Doch es war keineswegs ein Zufall, als die ausgestreckte Hand, statt vorbeizustreifen und zurückgezogen zu werden, mit langen Fingern über seine Hand glitt und sie hielt und von den Fingerspitzen bis zum Handgelenk streichelte und dort eindeutig zärtlich liegenblieb.
Nach dem Anschein seiner Unschuld hätte er dies nicht verstehen dürfen, noch nicht, ehe nicht viel mehr Zeit vergangen war. Doch er verstand es. Seine Aufrichtigkeit und seine Reinheit machten ihn weise. Er riß die Hand nicht zurück, zog sie aber sachte und freundlich an sich und wandte den schönen Kopf, um Uriens Blick aus großen, weit auseinanderliegenden, hellblauen Augen voll zu erwidern, und sein Blick war so sehr von Verständnis und Mitleid erfüllt, daß die Wunde in Urien unerträglich brannte, aufgerissen von Zorn und Scham. Urien zog seine Hand zurück und wandte sich ab.
Abscheu und Erschrecken hätten Urien vielleicht noch ein Fünkchen Hoffnung gelassen, daß eine Emotion mit Behutsamkeit allmählich in eine andere
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