Ein ganz besonderer Sommer
einem Stau auf der Autobahn nach einem Unfall durch sintflutartige Regenfälle. Ein Dutzend Fahrzeuge seien ineinander gerast, als ein Lastwagen ins Schlingern geraten und umgestürzt war. Harry ließ sich ausgiebig über die Unfähigkeit polnischer Autofahrer und die Schrottreife ihrer Wagen aus, die seiner Meinung nach schuld an der Karambolage sein mussten. Dann verkündete er, er wolle jetzt einen Umweg machen, um die Unfallstelle zu umgehen. Die Fahrt würde so zwar länger dauern, aber nicht so lange, wie sie vermutlich im Stau stehen würden.
Bille war es nur recht. Es war wesentlich abwechslungsreicher, über die Landstraßen zu fahren und die Dörfer mit ihren bunten Bauerngärten, mit Feldern und Koppeln zu sehen, auch wenn die Alleebäume sich inzwischen im Sturm bogen und prasselnder Regen eingesetzt hatte . Doch der ging zum Glück bald in ein sanftes Nieseln über. Der Blick in den stetig fallenden Regen machte schließlich auch Bille müde. Ihr Kopf sank zur Seite, und sie schlief ein.
Sie wusste nicht, wo sie war und wie lange sie geschlafen hatte, als sie durch einen heftigen Ruck und das Geräusch quietschender Bremsen geweckt wurde. Bille fuhr hoch. Neben ihr war auch Mutsch erwacht, rieb sich die Augen und schaute sie fragend an.
„Was ist los? Wo sind wir?“
Ehe Bille antworten konnte, gab ein neuer Zornesausbruch von Harry Auskunft über das Geschehen.
„Ja, wat is denn dat nu wieder! Ich glaub, ich steh im Wald. Bin ich hier in Sibirien oder im Urwald oder wo? Sind die Neandertaler hier noch nich mal in der Lage, ihre Viecher einzusperren oder wie seh ich dat ? Dat darf doch alles nich wahr sein! Typisch! Natürlich weit und breit keine Polizei oder sonst jemand, der für Ordnung sorgt ! Penner, allesamt!“
Bille war aufgesprungen und schaute über die Köpfe der anderen hinweg auf die Straße. Da tummelten sich ein paar ausgebrochene Jungpferde auf der Chaussee und irrten verängstigt zwischen den vor und hinter ihnen haltenden Autos umher. Einer der Fahrer versuchte, sie mit Hupen und dem Aufheulen seines Motors zu vertreiben, was Harry ihm sofort nachmachte. Ohne Erfolg, es führte nur dazu, dass die Pferde in panischer Angst stiegen und auskeilten. Bille stürmte durch den Gang nach vorn.
„Lassen Sie mich raus!“, rief sie Harry zu.
„ Dat geht jetzt nicht, Mädchen. Dat is zu jefährlich !“
„Machen Sie die Tür auf!“, beharrte Bille ungeduldig.
„Wat is los, is dir schlecht?“
„Das wird es mir gleich, wenn Sie nicht aufmachen. Und hören Sie auf zu hupen!“, brüllte Bille.
Verdattert öffnete Harry die Tür. Bille war mit einem Satz draußen. Langsam ging sie auf das am nächsten stehende Pferd zu und streckte die Hand aus. „Komm, mein Guter, hab keine Angst, es passiert dir nichts. Ganz ruhig, komm! Es ist alles gut, alles in Ordnung . . .“ Sie sprach in einem sanften Singsang, und das Pferd, das wie erstarrt vor ihr stand, jeden Augenblick zur Flucht bereit, entspannte sich allmählich. Ganz langsam kam Bille näher. „So ist es brav, komm, mein Schatz, komm her.“
Das Pferd reckte den Kopf und schnupperte vorsichtig an den Fingerspitzen des fremden Mädchens. Unter dem Klang der sanften Stimme kam es zögernd einen Schritt heran. Bille streichelte zart das weiche Pferdemaul. „So ist es fein, mein Schöner, komm her, es passiert dir nichts.“
Langsam glitt ihre Hand den Kopf hinauf bis zum Halfter und umfasste es behutsam. Dann streichelte sie den Hals des Tieres, bis sie spürte, dass es sich beruhigt hatte.
„Na komm, jetzt wollen wir feststellen, wo ihr hingehört. Da drüben auf die Koppel, stimmt’s ? Das Gatter hängt lose auf der Seite, da habt ihr ja ganze Arbeit geleistet. Mal sehen, wie wir das wieder hinkriegen.“
Die Autofahrer saßen wie paralysiert hinter ihren Lenkrädern und starrten auf das Mädchen im Regen. Keiner machte Anstalten auszusteigen.
Trottel !, dachte Bille. Vielleicht könnte mal einer auf die Idee kommen, mir zu helfen! Nun, wenigstens hatten sie aufgehört zu hupen und die Motoren abgestellt.
Auch die anderen Pferde hatten sich allmählich beruhigt und standen ratlos auf der Straße. Wenn sie das Pferd, das sie am Halfter hielt, zur Koppel hinüberbrachte, bestand immerhin die Hoffnung, dass die anderen ihm folgen würden. Aber was dann? Sie konnte nicht gleichzeitig die Pferde hineintreiben und das Koppeltor aufheben und befestigen. Von wegen „Nicht verzagen, Harry fragen“! Der ließ sich nicht
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