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Ein ganz besonderer Sommer

Ein ganz besonderer Sommer

Titel: Ein ganz besonderer Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tina Caspari
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Regen hinaus auf das, was einmal Hinterpommern gewesen war, ein fruchtbares Land mit einer intakten Landwirtschaft. Jetzt sah sie über endlose unbestellte Felder, ein vergessenes Stück Wildnis, für das sich niemand zu interessieren schien. Wie war das möglich: die Städte so gepflegt, Häuser, Kirchen, öffentliche Gebäude liebevoll nach den alten Plänen wieder aufgebaut - und hier dieser traurige Anblick?
    Hanna erklärte es: Nach der Vertreibung der Deutschen hatte man aus dem Osten, dort, wo man nach dem Krieg Russland ein Stück Land abtreten musste, die Ostpolen zwangsweise hierher umquartiert. Sie waren bis heute nicht heimisch geworden, warteten nun schon in der dritten Generation darauf, in ihre Heimat zurückzukehren. Sie konnten einfach nicht glauben, dass dieses Land ihnen für immer gehören sollte.
    Mutsch richtete sich auf und sah Bille fest an. „Da siehst du, wie unglücklich man wird, wenn man nur zurückschaut und sich an der Vergangenheit festklammert! Du lieber Gott, hätten wir so gehandelt . . . Die meisten von uns haben zum Glück das Nächstliegende getan. Zugepackt und ganz von vorn angefangen, ohne großes Gejammer.“
    Von der anderen Seite des Gangs nickte ihr der alte Herr von Boskow zu. „Ganz recht, meine Liebe. Und ich denke, wir haben unserer neuen Heimat eine Menge Gutes gebracht.“
    „Hier müsste man sich Land kaufen und einen Pferdezuchtbetrieb aufbauen“, meinte Bille verträumt. „Stell dir doch mal vor: grüne Koppeln, so weit du sehen kannst, Getreidefelder, weiß gestrichene Ställe und Wirtschaftsgebäude, und das alles so nah an der Ostsee.“
    Der alte Herr lächelte. „Wer weiß, in einem vereinten Europa kannst du diesen Traum vielleicht eines Tages verwirklichen. Mit polnischen Freunden und Reiterkollegen.“
    Die nächsten Tage gingen an Bille vorüber wie ein Rausch aus Worten und Bildern. Sie besuchten die zahllosen romanischen und gotischen Kirchen in der hier typischen Bauweise aus rotem Backstein, besichtigten Museen, Patrizierhäuser, ehemalige Klöster und bunte Marktplätze, bewunderten vielfarbige Häuserzeilen, die im Krieg völlig zerstört und genauso wieder aufgebaut worden waren, wie sie seit dem Mittelalter an ihrem Platz gestanden hatten. Sie bewegten sich in einem Schiff auf Rollen über Berge und erfuhren, dass man mit dieser alten Erfindung den tagelangen Handelsweg über Land auf wenige Stunden hatte verkürzen können. Und sie wanderten stundenlang durch Säle, Hallen, Gänge und Höfe der mächtigen Kreuzritterburgen.
    Abends vor dem Einschlafen holte Bille ihr Reisetagebuch heraus und versuchte wenigstens in Stichworten die Erlebnisse und Eindrücke des Tages festzuhalten. Und so oft sich die Möglichkeit dazu ergab, schrieb sie Postkarten an Simon, auf denen sie eine lustige Begebenheit, eine Besichtigung, die sie besonders beeindruckt hatte oder Anekdoten aus dem polnischen Leben, wie sie Hanna täglich erzählte, an ihn weitergab, oft mit kleinen Zeichnungen versehen.
    Billes Mutter genoss die Reise wie ein Kind die Sommerferien am Meer. Nur noch selten sprach sie von düsteren Erinnerungen, umso mehr war sie bemüht, nicht die kleinste Kleinigkeit zu verpassen. Ihr Koffer wurde mit jedem Tag schwerer von all den Erinnerungsstücken, die sie sammelte oder kaufte, und den Geschenken für die daheim gebliebene Familie. Doch bei alldem bemerkte Bille eine zunehmende Unruhe in Mutsch, je näher sie dem Ort ihrer frühen Kindheit kamen.
    Auch Bille verspürte eine gewisse Unruhe, doch anderer Art. Ihr fehlte das Reiten, das tägliche Training, der ständige Umgang mit Pferden. Da half der Anblick von Gespannen auf Straßen oder Feldern wenig. Die Bauern hier spannten oft noch ein Pferd vor den Pflug oder den Wagen, weil sie sich einen Traktor nicht leisten konnten. Bille freute sich mit einer wachsenden Ungeduld und Neugierde auf den zweiten Teil der Reise, den Aufenthalt auf dem Reiterhof.
    Doch zunächst führte sie die Fahrt nach Allenstein. Sie hatten mit Hanna darüber gesprochen, dass sie sich einen halben Tag freinehmen wollten, um Mutschs Geburtsort aufzusuchen. Die junge Reiseleiterin war ihnen behilflich gewesen, ein Taxi zu organisieren, dessen Fahrer recht gut deutsch sprach und der sie die wenigen Kilometer bis in das Dorf fahren würde. So verpassten sie zwar die Besichtigung der Burg, in der Kopernikus seine wissenschaftlichen Erkenntnisse mangels Papier auf die weißen Wände geschrieben hatte, aber den Besuch würde

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