Ein ganz besonderer Sommer
sich der flotte Harry. „Wat willst du junget Jemüse denn in dem Seniorenclub? Aber keine Sorge, ich werd mich schon um dich kümmern! Nicht verzagen, Harry fragen! Der wird mit jeder Situation fertig.“
„Nett von Ihnen, Harry, aber ich reise mit meiner Mutter“, sagte Bille zuckersüß. „Wir machen eine Studienfahrt.“
Harry entging, dass sie ihm das vertraute „Du“ verwehrte, er baggerte sie munter weiter an. „ Soo , mit der Mama bist du unterwegs. Na ja, wenn die abends früh müde wird, könnten wir ja mal ’n Weinchen miteinander trinken. Bei mir kannst du die besten Studien machen, die du dir vorstellen kannst. Haha . . .“
Idiot !, dachte Bille. Bildet sich ein, er wäre wahnsinnig witzig. Hoffentlich hält er wenigstens während der Fahrt die Klappe und nervt uns nicht pausenlos.
Der Wunsch sollte ihr nicht erfüllt werden. Kaum hatte Harry den Motor angelassen und den Bus auf die Stadtautobahn dirigiert, griff er zum Mikrofon und begann zu reden. Zunächst breitete er sich des Längeren über die unglücklichen Umstände aus, die den Reiseleiter am Kommen gehindert hatten. Dann erklärte er den Bus und dessen Komfort in allen Einzelheiten und begann schließlich mit seiner eigenen Lebensgeschichte, hin und wieder unterbrochen von wilden Beschimpfungen der anderen Autofahrer, bei denen es sich seiner Meinung nach ausnahmslos um Tattergreise, Hornochsen oder Vollidioten handelte, die ihren Führerschein im Lotto gewonnen hatten.
Längst hörte ihm keiner mehr zu. Überall im Bus hatte man die Unterhaltung wieder aufgenommen, oder man blickte aus dem Fenster und dachte beklommen an die Eindrücke, die einen in der alten Heimat erwarteten.
Mutsch, müde von den Aufregungen der Reisevorbereitung und der allzu kurzen Nacht, war neben Bille eingeschlafen. Auch Bille fühlte sich schläfrig. Und während sie in die von der Sonne golden gefärbte Landschaft schaute, gingen ihr die Gespräche der anderen Reiseteilnehmer durch den Kopf.
Sie alle waren Kinder oder Teenager gewesen, als sie ihre Heimat verlassen mussten. Was fühlte man, wenn man von einem zum anderen Tag aus der Umgebung gerissen wurde, in der man aufgewachsen war? Wenn man fluchtartig sein Haus, seinen Hof zurücklassen musste, mit allem, was bisher das Leben ausgemacht, was einen umgeben hatte. Tiere, die man liebte, die nun unversorgt waren, einen Garten, Felder, die unbestellt blieben.
Unwillkürlich sah sie sich mit Zottel und Black Arrow auf der Flucht, die beiden ungleichen Freunde vor einen schweren Wagen gespannt, auf denen gedrängt Menschen saßen, ihre Familie, Freunde, in Decken gehüllt, auf Bündeln und Koffern, in denen das steckte, was sie in der Eile hatten mitnehmen können. Sie sah sich mit klammen Fingern die Zügel halten, spürte das Schneetreiben, das einem die Sicht nahm, das Fell des Gespanns von Schnee bedeckt, sah, wie es sich anstrengen musste, auf der glatten Straße Halt zu finden, spürte die Angst, dass sie ausrutschen und stürzen könnten. Und dann der Schrei, der sich von Wagen zu Wagen fortsetzte: „Die Flieger kommen! Alles in Deckung!“ Hätte sie sich in den Graben gerettet? Hätte sie sich nicht an Zottel und Blacky geklammert und bei ihnen ausgehalten? Bille schluckte.
Mit Mühe vertrieb sie die düsteren Gedanken. Lieber Gott, lass so etwas nie, nie wieder geschehen !, dachte sie. Und wusste im gleichen Augenblick, dass es jederzeit geschah, überall auf der Welt. Und wenn es kein Krieg war, der Menschen auf die Flucht trieb, dann waren es andere schreckliche Ereignisse. Hunger, Wasserknappheit, Armut, Naturkatastrophen. Was konnte man anderes tun, als im eigenen Umfeld, mit seinen bescheidenen Möglichkeiten, zu helfen, wo Hilfe gebraucht wurde?
Das waren keine erheiternden Gedanken am Beginn einer Fahrt, auf die man sich gefreut hatte. Bille hatte sich nicht klar gemacht, dass ihre Reise in die Vergangenheit auch die Erinnerungen an all die schlimmen Erlebnisse von damals heraufbeschwören würde. Dass sie sie nur aus Erzählungen kannte, machte dabei keinen Unterschied. Fast war sie dankbar, dass Harry, da ihm keiner zuhörte, jetzt sein Radio einschaltete und hämmernde Popmusik durch den Bus dröhnte. Der Protest einiger Fahrgäste zwang ihn zwar, die Lautstärke zu drosseln, doch die Unterbrechung hatte ausgereicht, Bille in die Wirklichkeit zurückzuholen.
Am Himmel hatten sich inzwischen dunkle Wolken zusammengezogen. Im Radio sprach man von einem schweren Gewitter und von
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