Ein ganzes halbes Jahr
Mum einen Gruß von mir. Richte ihr aus, dass ich morgen mal vorbeikomme.»
Ich sah blinzelnd zu ihr auf. «Ich habe ein Tattoo», sagte ich plötzlich. «Eine Biene.»
Sie zögerte, hielt sich an der Rückenlehne des Sitzes fest.
«Ich habe es auf der Hüfte. Ein richtiges Tattoo. Es hält für immer.»
Deirdre schaute zur Bustür. Sie wirkte leicht verwirrt, und dann schenkte sie mir das, was sie für ein aufmunterndes Lächeln hielt.
«Nun, das ist ja sehr schön, Louisa. Und, wie gesagt, richte deiner Mum aus, dass ich morgen vorbeikomme.»
Jeden Tag, wenn er fernsah oder anderweitig beschäftigt war, saß ich vor Wills Computer und suchte nach dem magischen Ereignis, das Will glücklich machen würde. Aber im Laufe der Zeit wurde meine Liste mit Dingen, die wir nicht tun konnten, oder Orten, die wir nicht besuchen konnten, beträchtlich länger als die Liste mit den möglichen Unternehmungen. Als die Negativzahlen immer höher wurden, besuchte ich wieder die Chatrooms, um mir Rat zu holen.
Ha! , sagte Ritchie. Willkommen bei uns, Bee.
In der folgenden Zeit erfuhr ich in den Chatrooms, dass es seine eigenen Risiken barg, sich als Rollstuhlfahrer zu betrinken, und dazu gehörten Missgeschicke mit dem Katheter, mit dem Stuhl über den Bordstein kippen und von anderen Betrunkenen zum falschen Haus gefahren zu werden. Ich erfuhr, dass es keinen einzigen Ort gab, an dem Nichtgelähmte hilfsbereiter waren als an einem anderen, aber dass Paris als die rollstuhlfeindlichste Stadt der Welt galt. Das war enttäuschend, denn in irgendeinem verborgenen Winkel meines Inneren hatte ich weiter gehofft, dass wir dorthin fahren könnten.
Ich schrieb eine neue Liste von Dingen, die man mit einem Tetraplegiker nicht unternehmen kann.
Mit der U-Bahn fahren (auf den meisten Stationen gibt es keine Aufzüge), was uns die Angebote von halb London unmöglich machte, wenn wir nicht für Taxen zahlen wollten.
Ohne fremde Hilfe schwimmen gehen, und dann muss auch das Wasser so warm sein, dass es nicht innerhalb von ein paar Minuten zu unbeherrschbarem Zittern kommt. Sogar Umkleideräume für Behinderte nützen ohne Hebezug nichts. Nicht dass Will dazu bereit gewesen wäre, sich mit einem Hebezug ins Wasser absenken zu lassen.
Ins Kino gehen, es sei denn, man bekam einen Platz ganz vorn garantiert und Will hatte an dem entsprechenden Tag nicht zu starke Krämpfe. Die letzten zwanzig Minuten von Das Fenster zum Hof hatte ich auf allen vieren damit verbracht, das Popcorn aufzusammeln, das Wills unvorhersehbare Kniezuckung in die Luft geschleudert hatte.
An den Strand gehen, es sei denn, man besaß einen Rollstuhl mit ‹Breitreifen›. Wills Stuhl hatte keine.
Einen Flug buchen, wenn die Behinderten-Quote schon erreicht war.
Einkaufen gehen, es sei denn, die Geschäfte hatten die vorgeschriebenen Rampen. Viele Ladeninhaber rund um die Burg nutzten den denkmalgeschützten Status ihrer Häuser als Ausrede, um zu sagen, sie könnten keine Rampen auslegen. Bei manchen stimmte das sogar.
Irgendwohin gehen, wo es zu warm oder zu kalt war (Probleme mit der Körpertemperatur).
Spontan irgendwohin gehen (Taschen mussten gepackt, alle Wege doppelt und dreifach auf ihre Benutzbarkeit geprüft werden).
Zum Essen ausgehen, wenn man es peinlich fand, gefüttert zu werden, oder – je nach Kathetersituation – wenn die Toiletten des Restaurants im Keller lagen und nur über eine Treppe zu erreichen waren.
Lange Zugfahrten (zu anstrengend und zu schwierig, einen schweren, motorisierten Rollstuhl ohne Hilfe in einen Zug zu bekommen).
Ein Haarschnitt, wenn es geregnet hatte (dann blieben alle Haare an den Reifen des Rollstuhls kleben, und davon wurde uns merkwürdigerweise beiden schlecht).
Freunde besuchen, es sei denn, sie hatten Rollstuhlrampen. In den meisten Häusern gibt es Treppen. Die meisten Leute sorgen nicht für Rampen. Unser Haus war eine einsame Ausnahme. Aber Will sagte, er wolle sowieso niemanden besuchen.
Bei heftigem Regen von der Burg herunterkommen (die Bremsen arbeiteten nicht immer zuverlässig, und der Stuhl war so schwer, dass ich ihn nicht allein hätte halten können).
Irgendwohin gehen, wo man wahrscheinlich Betrunkenen begegnete. Will zog Betrunkene magnetisch an. Sie beugten sich zu ihm herunter, hüllten ihn in Alkoholdünste und betrachteten ihn mit großen, mitleidigen Augen. Und manchmal versuchten sie, ihn in seinem Stuhl wegzurollen.
Irgendwohin gehen, wo Menschenmengen waren. Das bedeutete, dass jetzt, wo der
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