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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
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sich fast einen seiner Schläuche herauszog.
Im Garten sitzen, jetzt, wo es wärmer war. Manchmal stand ich am Fenster und beobachtete ihn, wie er mit zurückgelehntem Kopf dasaß und die Sonne genoss. Als ich eine Bemerkung über seine Fähigkeit machte, einfach in aller Ruhe den Moment zu genießen – etwas, das mir nie gelungen ist –, verwies er darauf, dass jemandem, der weder Beine noch Arme bewegen konnte, kaum etwas anderes übrigblieb.
Mich dazu zu bringen, Bücher und Zeitschriften zu lesen und dann darüber zu reden. Wissen ist Macht, Clark , sagte er immer. Am Anfang hasste ich das richtig, ich kam mir vor wie in der Schule. Aber nach einer Weile stellte ich fest, dass es in Wills Augen keine falschen Antworten gab. Es gefiel ihm sogar, wenn ich mit ihm herumstritt. Er fragte mich nach meinen Ansichten zu den aktuellen Nachrichten und beurteilte Romanfiguren anders als ich. Er schien zu allem eine Meinung zu haben – was die Regierung machte, ob eine Firma eine andere kaufen sollte, ob jemand zu einer Gefängnisstrafe hätte verurteilt werden sollen. Wenn er mich denkfaul fand oder glaubte, ich würde die Meinung meiner Eltern oder von Patrick nachplappern, sagte er unumwunden: «Nein. Das ist nicht gut genug.» Und wenn ich über etwas nichts wusste, sah er so enttäuscht aus, dass ich anfing, morgens auf der Busfahrt Zeitung zu lesen, damit ich vorbereitet war. «Gutes Argument, Clark», sagte er manchmal, und ich strahlte. Und dann hätte ich mir in den Hintern treten können, weil ich schon wieder zugelassen hatte, dass mich Will so gönnerhaft behandelte.
Rasiert werden. Inzwischen seifte ich ihm alle zwei Tage das Kinn ein und sorgte dafür, dass er präsentabel war. Wenn er nicht gerade einen schlechten Tag hatte, lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, schloss die Augen, und etwas, das wie körperliches Behagen aussah, glitt über sein Gesicht. Vielleicht habe ich mir das eingebildet. Vielleicht sah ich, was ich sehen wollte. Aber er schwieg die ganze Zeit, wenn ich sanft mit der Klinge über sein Kinn fuhr, die Seife glatt strich und die Stoppeln abschabte, und wenn er die Augen öffnete, war sein Blick weicher geworden, wie bei jemandem, der aus einem besonders schönen Traum erwacht. Sein Gesicht hatte inzwischen von der Zeit, die wir draußen verbrachten, Farbe bekommen; er hatte eine Haut, die schnell bräunte. Ich verstaute die Rasierklingen ganz oben im Badezimmerschrank, hinter einer großen Flasche Haarspülung.
Ein Kerl sein. Besonders zusammen mit Nathan. Manchmal setzten sie sich vor dem abendlichen Pflegeprogramm ganz hinten in den Garten, und Nathan machte ein paar Biere auf. Ab und zu hörte ich sie über Rugby diskutieren oder Witze über eine Frau machen, die sie im Fernsehen gesehen hatten, und all das klang überhaupt nicht nach Will. Aber ich verstand, dass er das brauchte. Er brauchte jemanden, mit dem er den Kerl spielen und Männersachen machen konnte. Das war ein kleines bisschen ‹Normalität› in seinem merkwürdigen, abgesonderten Leben.
Meine Garderobe kommentieren. Im Grunde genommen beschränkte sich das auf hochgezogene Augenbrauen. Ausgenommen die schwarz-gelben Strumpfhosen. Er hatte zwar bei den zwei Gelegenheiten, zu denen ich sie getragen hatte, nichts gesagt, aber genickt, als wäre die Welt wenigstens in einer Hinsicht in Ordnung.
    «Sie haben letztens meinen Dad in der Stadt gesehen, oder?»
    «Oh. Ja.» Ich war gerade beim Wäscheaufhängen. Die Wäscheleine war hinter dem versteckt, was Mrs. Traynor den Küchengarten nannte. Ich glaube, sie wollte sich den Blick auf ihre Blumenrabatten nicht von so etwas Profanem wie Wäsche verderben lassen. Meine eigene Mutter klammerte dagegen ihre Weißwäsche geradezu als Beweis ihres Hausfrauenstolzes an die Leine. Es war, als schleudere sie ihren Nachbarinnen damit einen Fehdehandschuh hin: Das müsst ihr erst mal nachmachen, Ladys! Dad konnte sie nur mit Mühe daran hindern, einen zweiten Wäscheständer auf der Veranda aufzustellen.
    «Er hat mich gefragt, ob Sie etwas darüber gesagt haben.»
    «Oh.» Ich bemühte mich um eine ausdruckslose Miene. Und dann, weil er auf eine weitere Antwort zu warten schien, sagte ich: «Offensichtlich nicht.»
    «Hatte er jemanden bei sich?»
    Ich warf die letzte Klammer zurück in den Klammerbeutel. Dann rollte ich ihn zusammen und legte ihn in den leeren Wäschekorb. Ich drehte mich zu ihm um.
    «Ja.»
    «Eine Frau?»
    «Ja.»
    «Rothaarig?»
    «Ja.»
    Will dachte einen

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