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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
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begegnet wäre.
    Mrs. Traynor dagegen – meine Güte –, für Mrs. Traynor war ich anscheinend die dümmste und unverantwortlichste Person auf dem gesamten Planeten.
    Es hatte mit den Bilderrahmen angefangen. Nicht das Geringste, was im Haus geschah, entging Mrs. Traynors Aufmerksamkeit, und ich hätte wissen müssen, dass die Zerstörung der Rahmen in ihren Augen einer Naturkatastrophe gleichkam. Sie fragte mich ewig aus. Wie lange genau hatte ich Will allein gelassen? Was hatte den Ausbruch provoziert? Wie schnell hatte ich die Scherben weggeräumt? Sie kritisierte mich nicht direkt, und sie war viel zu vornehm, um laut zu werden, aber ihre Art, zu meinen Antworten langsam zu blinzeln, und ihr leises Hmm-hmm , während ich redete, sprachen Bände. Es überraschte mich kein bisschen, als Nathan mir erzählte, dass sie Richterin war.
    Sie meinte, es wäre vermutlich günstig, wenn ich Will nicht noch einmal so lange allein ließe, ganz gleich, wie unbehaglich die Situation war, hmmm ? Sie meinte, ich könnte ja beim nächsten Abstauben dafür sorgen, dass nichts dicht am Rand stand, was dann versehentlich heruntergeworfen werden konnte, hmmm ? (Anscheinend war es ihr lieber, die Sache als Missgeschick zu betrachten.) Sie brachte mich dazu, mich wie eine Idiotin erster Güte zu fühlen, und natürlich verwandelte ich mich daraufhin auch automatisch in eine Idiotin erster Güte, wenn sie in der Nähe war. Sie kam immer, wenn ich gerade etwas hatte fallen lassen oder mit dem Hightech-Herd kämpfte, oder sie stand in der Diele, wenn ich mit dem neu gefüllten Holzkorb zurückkam, und sah mich mit leicht irritiertem Blick an, als hätte ich Stunden draußen verbracht.
    Merkwürdigerweise machte mir ihr Verhalten mehr aus als Wills Gemeinheiten. Ein paarmal war ich drauf und dran, sie zu fragen, ob irgendetwas nicht stimmte. Sie haben gesagt, Sie stellen mich wegen meiner Art ein, nicht wegen meiner beruflichen Erfahrung , wollte ich sagen. Tja, und da bin ich, und zwar jeden verdammten Tag mit guter Laune. Also, wo liegt Ihr Problem?
    Aber Camilla Traynor war nicht die Frau, zu der man so etwas sagen konnte. Abgesehen davon hatte ich das Gefühl, dass in diesem Haus kein Mensch jemals direkt aussprach, was er dachte.
    «Lily, unsere letzte Haushaltshilfe, war sehr geschickt darin, in derselben Pfanne zwei Gemüsesorten zuzubereiten» hieß: Sie benutzen zu viel Geschirr .
    «Möchtest du vielleicht eine Tasse Tee, Will?» hieß: Ich habe keine Ahnung, worüber ich mit dir reden soll .
    «Ich glaube, ich muss los, mich um einigen Papierkram kümmern» hieß: Du warst unhöflich, also gehe ich .
    Und all das sagte sie mit diesem leidenden Gesichtsausdruck, während ihre schlanken Finger an der Goldkette mit dem Kreuz entlangstrichen. Im Vergleich zu ihr sah sogar meine eigene Mutter aus wie Amy Winehouse. Ich lächelte höflich, tat so, als hätte ich nichts gehört, und machte die Arbeit, für die ich bezahlt wurde.
    Beziehungsweise ich versuchte es.
    «Warum zum Teufel versuchen Sie, mir Karotten auf die Gabel zu schmuggeln?»
    Ich sah auf den Teller hinab. Ich hatte gerade die Fernsehmoderatorin gemustert und überlegt, wie ich mit ihrer Haarfarbe aussehen würde.
    «Was? Das hab ich nicht.»
    «Doch. Sie haben sie zerdrückt und in die Soße gerührt. Ich habe es genau gesehen.»
    Ich wurde rot. Er hatte recht. Ich fütterte Will, während wir nebenbei die Mittagsnachrichten sahen. Es gab Roastbeef mit Kartoffelbrei. Seine Mutter hatte mir erklärt, ich müsse immer drei Sorten Gemüse auf dem Teller haben, obwohl er klar gesagt hatte, dass er an diesem Tag kein Gemüse essen wollte. Ich glaube, es gab kein einziges Essen, das ich für ihn kochen sollte, dessen Nährstoffgehalt nicht bis aufs Mikrogramm berechnet worden war.
    «Warum versuchen Sie, mir heimlich Karotten zu geben?»
    «Das tue ich doch gar nicht.»
    «Also sind hier keine Karotten drin?»
    Ich starrte die winzigen orangefarbenen Stückchen an. «Na ja … also …»
    Er wartete mit hochgezogenen Augenbrauen ab.
    «Mmh … ich habe vermutlich gedacht, Gemüse wäre gut für Sie.»
    Ehrlich gesagt hatte ich es nur zum Teil getan, um Mrs. Traynors Wünschen zu entsprechen, zum Teil war es aber auch schlicht Gewohnheit. Ich war nämlich daran gewöhnt, Thomas zu füttern, dessen Gemüse immer zu Brei zerdrückt und unter Bergen von Kartoffeln versteckt oder in die Nudelsoße gerührt werden musste. Jedes Stückchen, das er hinunterschluckte, war

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