Ein ganzes halbes Jahr
wandte nicht einmal den Blick vom Fenster ab.
«Kein guter Tag heute», murmelte Nathan, als er sich die Jacke überstreifte.
Es war ein grauer, wolkenverhangener Vormittag. Der Regen schlug ans Fenster, und man konnte sich kaum vorstellen, dass irgendwann einmal wieder die Sonne scheinen würde. Sogar ich war an solchen Tagen mürrisch. Also überraschte es mich wenig, dass Will noch schlechtere Laune hatte als sonst. Ich fing mit meiner Arbeit an und sagte mir, dass es egal war. Man musste seinen Arbeitgeber schließlich nicht mögen, oder? Eine Menge Leute mochten ihre Arbeitgeber nicht. Ich dachte an Treenas Chefin, eine angespannte Seriengeschiedene, die überwachte, wie oft meine Schwester zur Toilette ging, und ständig bissige Kommentare zu überdurchschnittlicher Blasentätigkeit fallenließ. Davon abgesehen hatte ich schon zwei Wochen durchgehalten. Das bedeutete, dass nur noch fünf Monate und dreizehn Arbeitstage vor mir lagen.
Die Fotos waren in der unteren Schublade, in die ich sie am Vortag gestapelt hatte. Jetzt hockte ich auf dem Boden und begann sie um mich auszubreiten, weil ich feststellen wollte, welche Rahmen ich vielleicht reparieren konnte. Ich bin ziemlich gut im Reparieren. Außerdem war das nicht die schlechteste Art, die Zeit herumzubringen.
Ich war seit etwa zehn Minuten mit den Fotos beschäftigt, als mir das leise Summen des Rollstuhls verriet, dass Will kam.
An der Tür hielt er an und betrachtete mich. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Manchmal, hatte mir Nathan erzählt, konnte er die ganze Nacht nicht schlafen. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie es war, in einem Bett zu liegen, aus dem man nicht aufstehen konnte, und dabei bloß düstere Gedanken als Gesellschaft zu haben, bis es endlich hell wurde.
«Ich habe gedacht, ich sehe mal, ob ich ein paar hiervon reparieren kann», sagte ich und hob einen der Rahmen hoch. Es war das Foto, das ihn bei dem Bungee-Sprung zeigte. Ich versuchte, fröhlich zu wirken. Er braucht jemanden, der optimistisch ist, der positive Stimmung verbreitet.
«Warum?»
Ich blinzelte. «Na ja … Ich glaube, ein paar davon lassen sich noch verwenden. Ich habe Holzleim mitgebracht, wenn Sie möchten, dass ich versuche, sie zu reparieren. Oder wenn Sie neue wollen, kann ich in meiner Mittagspause welche kaufen. Oder wir könnten zusammen gehen, wenn Sie Lust auf …»
«Wer hat Ihnen gesagt, dass Sie sie reparieren sollen?»
Er starrte mich unnachgiebig an.
Oje, oje, dachte ich. «Ich … ich wollte nur helfen.»
«Sie wollten in Ordnung bringen, was ich gestern getan habe.»
«Ich …»
«Soll ich Ihnen mal etwas sagen, Louisa? Es wäre sehr schön, wenn ausnahmsweise einmal jemand auf meine Wünsche Rücksicht nehmen würde. Dass ich diese Fotos zerstört habe, war kein Versehen. Und es war kein Experiment in radikaler Inneneinrichtung. Der Grund war, dass ich sie nicht mehr sehen will.»
Ich stand auf. «Es tut mir leid. Ich dachte nicht, dass …»
«Sie dachten, Sie wüssten es besser. Jeder denkt, er wüsste, was ich brauche oder will. Kleben wir die verdammten Fotos wieder zusammen. Der Pflegefall muss doch was zum Anschauen haben. Ich will nicht, dass mich diese verdammten Fotos immerzu anstarren, wenn ich im Bett liege, bis endlich jemand kommt und mich wieder rausholt. Kapiert? Glauben Sie, das bekommen Sie in Ihren Schädel?»
Ich schluckte. «Das von Alicia wollte ich nicht kleben … so dumm bin ich nicht … Ich habe nur gedacht, dass Sie vielleicht in ein paar Tagen …»
«O Gott.» Er drehte sich von mir weg. Seine Stimme ätzte: «Ersparen Sie mir die Psychotherapie. Gehen Sie einfach und lesen Sie Ihre idiotischen Klatschblätter oder was auch immer Sie tun, wenn Sie keinen Tee kochen.»
Meine Wangen brannten. Ich sah ihm nach, wie er den Rollstuhl durch den Flur manövrierte, und dann platzte ich heraus: «Sie müssen sich trotzdem nicht wie ein Arsch benehmen.»
Die Worte hallten in der Stille nach.
Der Rollstuhl blieb stehen. Nach einer langen Pause drehte Will langsam um, sodass er mich ansah. Seine Hand lag auf dem kleinen Steuerknüppel.
«Wie bitte?»
Mit rasendem Herzschlag starrte ich ihn an. «Sie haben Ihre Freunde beschissen behandelt. Na gut. Wahrscheinlich hatten sie es verdient. Aber ich komme Tag für Tag hierher und versuche, alles so gut zu machen, wie ich es nur kann. Also wäre ich Ihnen wirklich verbunden, wenn Sie mir das Leben nicht genauso vermiesen würden wie allen
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