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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
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anderen.»
    Seine Augen weiteten sich ein bisschen. Er hielt kurz inne, bevor er sagte: «Und was wäre, wenn ich Ihnen sage, dass ich Sie nicht hier haben will?»
    «Ich bin nicht von Ihnen angestellt worden. Ihre Mutter hat mich angestellt. Und solange sie mir nicht sagt, dass sie mich nicht mehr hier haben will, bleibe ich. Nicht, weil ich Sie oder diesen bescheuerten Job besonders mag oder vorhabe, irgendwie Ihr Leben zu ändern, sondern weil ich das Geld brauche. Okay? Ich brauche das Geld wirklich.»
    Will Traynor hatte keine Miene verzogen, aber ich glaubte trotzdem, in seinem Gesichtsausdruck so etwas wie Erstaunen darüber zu erkennen, dass sich jemand mit ihm herumstritt.
    Verflucht , dachte ich, als mir klar wurde, was ich da getan hatte. Jetzt hab ich’s wirklich endgültig verbockt.
    Aber Will starrte mich nur weiter an, und als ich den Blick nicht abwandte, atmete er aus, als wollte er gleich etwas Unerfreuliches sagen.
    «Na gut», sagte er, und dann drehte er mit dem Rollstuhl um. «Legen Sie die Fotos einfach in die unterste Schublade, bitte. Alle.»
    Und mit einem leisen Summen des Rollstuhlmotors verschwand er.

[zur Inhaltsübersicht]
    Kapitel 5
    D ie Sache ist die: Wenn man plötzlich in ein ganz neues Leben katapultiert wird oder jedenfalls auf einmal so eng mit jemandem zu tun hat, ist es, als würde man sich die Nase am Wohnzimmerfenster von fremden Leuten platt drücken – es bringt einen dazu, neu zu überdenken, wer man eigentlich ist. Oder wie man auf andere Leute wirkt.
    Für meine Eltern war ich innerhalb von vier kurzen Wochen um einiges interessanter geworden. Ich war jetzt der Zugang zu einer anderen Welt. Vor allem meine Mutter fragte mich täglich nach dem Granta House und den dortigen Gepflogenheiten, als wäre sie ein Zoologe, der eine seltsame neue Art in ihrem Lebensraum untersucht. «Legt Mrs. Traynor zu jedem Essen Leinenservietten auf den Tisch?», fragte sie zum Beispiel oder: «Glaubst du, sie staubsaugen täglich, so wie wir?», oder: «Wie kochen sie ihre Kartoffeln?»
    Sie schickte mich morgens mit der strikten Anweisung los, herauszufinden, welche Marke Toilettenpapier sie benutzten oder ob die Bettlaken aus Baumwoll-Polyester-Mischgewebe waren. Es war eine herbe Enttäuschung für sie, dass ich mich an vieles nicht so genau erinnern konnte. Meine Mutter lebte in der heimlichen Überzeugung, dass reiche Leute wie die Schweine hausten – und zwar, seit ich ihr als Sechsjährige erzählt hatte, dass die wohlhabende Mutter eines Schulfreundes uns nicht im Empfangszimmer spielen lassen wollte, weil wir ‹den Staub aufwirbeln› würden.
    Als ich nach Hause kam und berichtete, dass der Hund tatsächlich in der Küche fressen durfte oder dass die Traynors ihre Zugangstreppe nicht täglich abschrubbten, wie es meine Mutter tat, spitzte sie die Lippen, warf einen Seitenblick auf meinen Vater und nickte in wortloser Befriedigung, als hätte ich ihr soeben alles bestätigt, was sie von den schlampigen Sitten in vornehmen Kreisen schon längst geahnt hatte.
    Die Abhängigkeit meiner Eltern von meinem Einkommen oder vielleicht auch die Tatsache, dass sie wussten, wie sehr ich meine Arbeit verabscheute, hatte zur Folge, dass ich zu Hause mit ein bisschen mehr Respekt behandelt wurde. Das hieß allerdings nicht viel – was meinen Vater anging, so hörte er auf, mich ‹Moppelchen› zu nennen, und meine Mutter erwartete mich beim Heimkommen mit einem Becher Tee.
    Was Patrick und meine Schwester betraf, gab es keine Veränderungen. Ich blieb weiterhin die Zielscheibe für ihren Spott und die Empfängerin ihrer Küsse, Umarmungen oder ihrer schlechten Laune. An mir selbst nahm ich keine Veränderung wahr. Ich sah genauso aus wie immer und zog mich, Treen zufolge, an, als hätte ich einen Ringkampf in der Kleiderkammer des Roten Kreuzes hinter mir.
    Ich hatte bei fast allen Bewohnern des Granta House keine Ahnung, was sie von mir hielten. Will war nicht zu durchschauen. Für Nathan war ich vermutlich einfach die aktuelle Haushaltshilfe in einer langen, langen Reihe von Haushaltshilfen. Er war immer sehr freundlich, dabei aber auch etwas distanziert. Er ging wohl nicht davon aus, dass ich lange bleiben würde. Mr. Traynor nickte mir höflich zu, wenn wir uns in der Diele begegneten, und erkundigte sich gelegentlich nach dem Verkehr oder ob ich mich inzwischen an die Arbeit gewöhnt hätte. Ich bin nicht sicher, ob er mich wiedererkannt hätte, wenn er mir in einer anderen Umgebung

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