Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom
aufgeregt ist.
Wir wissen, dass auch bei normalen Menschen Routinen, Rituale und Wiederholungen entspannend wirken und dass die Spezialinteressen von Menschen mit Asperger-Syndrom gerade durch solche Routinen, Rituale und Wiederholungen gekennzeichnet sind. Eine Jugendliche mit Asperger-Syndrom hatte sich intensiv mit der japanischen Kultur beschäftigt und als Folge davon eine ausgefeilte und ritualisierte Teezeremonie entwickelt, die sie jedes Mal durchführte, wenn sie ängstlich war. Diese Handlung hat sie eindeutig beruhigt. Luke Jackson 55 , ein Jugendlicher mit Asperger-Syndrom und erstaunlichen Computerkenntnissen, beschreibt die Katalogisierung seiner Interessen als ein Mittel, die »Festplatte in seinem Kopf zu defragmentieren«. Dadurch konnte er für sich ein Gefühl der Sicherheit und des Wohlbefindens schaffen.
Wenn das Spezialinteresse die einzige Entspannungsmöglichkeit darstellt
Ich habe beobachtet, dass das Maß an Motivation und Zeit, das man für ein Spezialinteresse aufbringt, sich proportional zum Maß an Stress, Angst und Aufregung verhält. Je mehr eine solche Person sich Sorgen macht oder verwirrt und aufgeregt ist, desto mehr Raum wird auch ihr Spezialinteresse in ihrem Denken einnehmen. Wenn das Spezialinteresse die einzige Entspannungsquelle ist und der Stress anhält, kann die Beschäftigung damit zwanghafte Züge annehmen. Der Zugang zum Spezialinteresse sollte dann zeitlich geregelt, jedoch auf keinen Fall gänzlich untersagt werden. Bedenken Sie, dass aus der Perspektive des Kindes die Zeit immer dann besonders schnell vergeht, wenn es sich mit seinem Interesse beschäftigt. Man wird also nicht ohne Verhandlungen und Kompromisse im Hinblick auf die Dauer des Zugangs auskommen.
Spezialinteresse zur Deeskalation verwenden
Wenn ein Kind mit Asperger-Syndrom besonders aufgeregt ist, verringert sich die Bandbreite an möglichen Werkzeugen und es verbleiben nur noch drei davon:
das physische Freisetzen der überschüssigen Energie,
der Rückzug oder
die Beschäftigung mit dem Spezialinteresse.
Der Zugang zum Spezialinteresse kann dabei die Funktion eines Ausschalters übernehmen, mit dem man negative Gedanken ausblenden kann. Wenn ein Jugendlicher sich zum Beispiel gerne mit Fußball beschäftigt, dann kann es einen erstaunlich beruhigenden Effekt haben, wenn man ihn die Fußb allergebn isse des letzten Wochenendes aufschreiben lässt. Damit belohnt man nicht unangemessenes Verhalten. In einer emotionalen Notsituation kann man so schnell eine weitere Steigerung der Aufregung unterbinden, wenn im Werkzeugkasten keine anderen Werkzeuge zur Verfügung stehen.
Medikamente gegen Angst und Depression
Menschen mit Asperger-Syndrom werden oft Medikamente verschrieben, um ihre Gefühle zu steuern. Wenn derjenige klare Symptome einer affektiven Störung zeigt, dann kann man auch Medikamente als eines der Werkzeuge empfehlen, mit denen er aufgebaut werden kann. Die klinische Erfahrung hat die Bedeutung von Medikamenten bei der Behandlung von Ängsten, Depression und Wut bei Menschen mit Asperger-Syndrom bestätigt, doch äußern diese Menschen und deren Eltern manchmal Bedenken. Eine der Sorgen, die von Eltern und von Ärzten geteilt wird, ist die, dass wir bislang noch nicht über Langzeitstudien verfügen, mit denen die langfristigen Wirkungen von psychotropischen Medikamenten bei Kindern mit Asperger-Syndrom untersucht werden können. Es gibt aber Hinweise darauf, dass geringe Dosen solcher Medikamente einigen Erwachsenen mit Asperger-Syndrom helfen können. 56
Wie wird die Medikamentenwirkung empfunden?
Eine weitere Sorge der Eltern, Lehrer und besonders des Menschen mit Asperger-Syndrom selbst ist die Wirkung der Medikamente auf das klare Denken. Sie berichten, dass die Medikamente ihr Denken verlangsamen und ihre kognitiven Fähigkeiten behindern. Für sie ist gerade die Klarheit ihres Denkens besonders wichtig: So beschrieb ein Erwachsener mit Asperger-Syndrom seine Reaktion auf die medikamentöse Behandlung: »Es war, als wäre ich aus meiner Wohnung ausgesperrt.« Mehrere Erwachsene, die antipsychotische Medikamente zur Steuerung ihrer Wut genommen haben, haben mir gegenüber erklärt, dass die Medikamente nicht ihr inneres Erleben verändern, sondern lediglich das Maß an Energie, um das Gefühl auszudrücken.
Einige affektive Störungen sind so gravierend, dass eine Psychotherapie wie die KVT nicht genügend »Energie« liefert, um der Person zu helfen, mit ihren intensiven Gefühlen
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