Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom
wenn die emotionale Reaktion verzögert erfolgt. Das Kind macht sich vielleicht Sorgen über etwas, kann seine Gefühle aber seinen Eltern gegenüber nicht kommunizieren und Stunden oder Tage später brechen die aufgestauten Gefühle explosionsartig hervor. Solche Kinder behalten ihre Gedanken oft lieber für sich und spielen entsprechende Situationen immer wieder im Kopf durch, um sie zu begreifen. Jeder Gedankengang setzt dabei aber auch die entsprechenden Gefühle frei und irgendwann kann das Kind sie nicht länger kontrollieren. Die Frustration, die Angst oder die Verwirrung haben dann ein solches Maß erreicht, dass sie durch ein besonders aufgeregtes Verhalten ausgedrückt werden. Wenn Eltern dann mitbekommen, dass das Kind diese Sorgen so lange mit sich herumgetragen haben, dann fragen sie das Kind, warum es ihnen nicht schon viel früher davon erzählt habe, damit sie ihm hätten helfen können. Doch sind diese Kinder oft nicht in der Lage, ihre Gefühle effektiv zu artikulieren und sie scheinen auch nicht zu erkennen, dass Eltern ihnen dabei helfen könnten, ihr Problem zu verstehen und zu lösen.
Sich selbst für die Gefühle anderer verantwortlich fühlen
Einige Kinder und Jugendliche mit Asperger-Syndrom können sich selbst für die Aufregung oder die Sorgen anderer verantwortlich machen, auch wenn sie diese Gefühle gar nicht selbst verursacht haben.
AUS DEM LEBEN
»Ich dachte, es ist immer meine Schuld, wenn andere wütend sind«
Wendy Lawson erklärt hierzu:
»Bis vor kurzem habe ich immer geglaubt, dass ich wohl selbst daran schuld sein musste, wenn jemand, den ich kannte, wütend war. Erst jetzt wird mir langsam klar, dass andere Menschen auch aus ganz anderen Gründen unglücklich oder auch wütend sein können. Tatsachlich hat das oft gar nichts mit mir zu tun!« 18
Die Gefühle können abrupt wechseln
Das Kind kann entweder übermäßig anhänglich in Bezug auf einen Elternteil sein oder aber es fehlt eine solche Bindung völlig; oder es weist extreme Reaktionen auf Veränderungen der täglichen Routine auf oder wenn es mit Frustrationen und Situationen konfrontiert ist, in denen es versagt. Das Kind kann dann sehr schnell von einer Emotion auf eine andere umschalten. Ich frage dann die Eltern, ob sie bei dem Kind einen solchen schnellen Wechsel der Emotionen beobachten, vergleichbar dem unvorhersehbaren Lauf einer Kugel in einem Flipperautomaten. Wendy Lawson schrieb über ihre Gefühle und erklärte: »Das Leben ist entweder glücklich oder unglücklich, wütend oder nicht wütend. Alle Gefühle dazwischen bekomme ich nicht mit. Ich springe von Ruhe zu Panik in einem einzigen großen Schritt.« 19
Viele Eltern erkennen, dass ihr Kind am glücklichsten ist, wenn es allein ist 20 oderwenn es sich mit seinen Spezialinteressen beschäftigt. 21 Der Mensch mit Asperger-Syndrom verbindet Glücklichsein meist nicht mit anderen Menschen oder er weiß nicht, was man tut, wenn man glücklich ist. Manchmal wird Glück in einer etwas unreifen oder ungewöhnlichen Weise ausgedrückt, etwa, wenn diese Person dann buchstäblich vor Freude in die Luft springt oder wild mit den Händen wedelt.
Subtilere Gefühlsausdrücke fehlen
Die Beobachtung des Kindes durch eine Fachkraft kann Aspekte aufzeigen, die sich von denen normaler Kinder qualitativ unterscheiden. Hans Asperger bemerkte, dass es dem Gesicht des Kindes an subtileren Gefühlsausdrücken fehle und es oft »hölzern« oder wie eine Maske wirke und dann unnatürlich oder ungewöhnlich ernsthaft erscheine. 22 Ein Erwachsener mit Asperger-Syndrom sagte einmal zu mir: »Ich habe nur einen einzigen Gesichtsausdruck« und ein anderer meinte: »Die Leute sagen mir, ich solle nur lächeln, obwohl ich mich innerlich viel großartiger fühle.«
Kann das Kind mit Buch- oder Filmhelden mitfiebern?
Während der Diagnosestellung bei Kindern mit Asperger-Syndrom erzähle ich verschiedene Geschichten und stelle dann dem Kind bestimmte Fragen, um das Maß an Reife bei Theory-of-Mind-Fähigkeiten zu bestimmen (siehe Kapitel 5). Diese Geschichten beinhalten Beschreibungen von Gefühlen bestimmter Personen, wie zum Beispiel Glücksgefühle und Enttäuschung. Ich beobachte dann genau den Gesichtsausdruck und die Körpersprache des Kindes, um zu sehen, ob diese die beschriebenen Gefühle widerspiegeln. Bei normalen Kindern beobachtet man Gesichtsausdrücke, die zeigen, dass sich das Kind mit der Hauptfigur identifiziert. Kinder mit Asperger-Syndrom sind dagegen eher
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