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Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom

Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom

Titel: Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tony Attwood
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aufmerksam als emotional involviert. Mir ist auch aufgefallen, dass Erwachsene mit Asperger-Syndrom oft nicht mit Charakteren in einem Film mitfühlen und eher ein »Pokerface« haben, während andere Menschen im Kino eindeutig mit den Figuren mitfiebern.
Gefühle werden intellektualisiert
    Wenn sie über Gefühle sprechen, intellektualisieren Erwachsene mit Asperger-Syndrom diese oft, reagieren ablehnend auf zu große Emotionalität bei anderen und beschreiben, dass sie Schwierigkeiten haben, bestimmte Gefühle, wie zum Beispiel Liebe, zu verstehen. Es besteht oft eine auffällige emotionale Unreife; ein Mathematikprofessor kann etwa die emotionale Reife eines Jugendlichen haben. Obwohl sich diese Menschen oft über Kleinigkeiten aufregen können, ist mir aufgefallen, dass einige Erwachsene mit Asperger-Syndrom bekannt dafür sind, dass sie in Krisensi tuationen, in denen andere in Panik geraten würden, völlig ruhig bleiben. Das ist eine sehr nützliche Eigenschaft für Erwachsene mit Asperger-Syndrom, die in der Notfallversorgung in Krankenhäusern oder als Soldaten im Kampfeinsatz tätig sind.
    AUS DEM LEBEN
    Widersprüchliche Gefühle verstehen
    Sean Barron erklärte dazu:
    »Ich war schon Anfang zwanzig als ich eine einfache Regel sozialer Interaktionen begriff, die mir dann das Tor zum besseren Verständnis anderer Menschen öffnete: Menschen können mehrere Gefühle zugleich empfinden, und meist tun sie das auch. Für mich war das immer unbegreiflich, dass jemand allgemein glücklich sein, sich aber über einen bestimmten Vorfall maßlos ärgern konnte; dass also in einer Person zwei widersprüchliche Gefühle zugleich wirksam waren.« 23
    Menschen mit Asperger-Syndrom kann es auch schwerfallen zu verstehen, dass jemand zwei scheinbar widersprüchliche Gefühle zur selben Zeit empfinden kann, etwa wenn jemand glücklich über eine Beförderung ist, aber auch Angst vor der neuen Verantwortung hat.
Die Fähigkeit, andere zu trösten
    Die diagnostische Beurteilung beinhaltet eine Untersuchung der Fähigkeit, Gefühle zu erkennen und auszudrücken, aber auch die Fähigkeit, zu trösten. Bei Kindern verwende ich eine Geschichte, um die Fähigkeit, jemand anderen zu trösten, zu beurteilen. Ich bitte das Kind, sich vorzustellen, wie es von der Schule nach Hause kommt, in die Küche geht und dort seine Mutter am Spülbecken sieht. Sie wendet dem Kind zunächst den Rücken zu, grüßt es und dreht sich dann zu ihm um. Dabei fällt dem Kind auf, dass sie weint und offenbar sehr traurig ist. Sie sagt dem Kind, dass dies nicht seine Schuld ist. Dann frage ich das Kind: »Wenn sie weint und sehr traurig ist, was würdest du tun?«
    Sowohl normale Kinder als auch Kinder mit Asperger-Syndrom antworten meist, dass sie die Mutter zunächst fragen, was sie hat. Ich lobe dann diese Antwort und frage weiter: »Und was würdest du tun, damit sie sich besser fühlt?« Normale Kinder schlagen dann Gesten oder Worte vor, mit denen sie ihre Mutter aufmuntern würden. Kinder mit Asperger-Syndrom dagegen denken eher an praktische Handlungen, die ihr helfen könnten; sie würden etwa Taschentücher holen, mit denen sie ihre Tränen abwischen kann, oder sie würden ihr einen Tee machen, sich um die Hausaufgaben kümmern oder mit ihr über die eigenen Spezialinteressen reden (denn das würde dem Kind selbst helfen, sich besser zu fühlen) oder sie würden sie einfach in Ruhe lassen, in der Annahme, dass Probleme am ehesten verschwinden, wenn man in Ruhe gelassen wird.
    Manchmal schlagen auch Kinder mit Asperger-Syndrom eine Umarmung vor, aber wenn ich nachfrage, warum so etwas hilft, antworten sie, dass sie das nicht genau wüssten, aber dass man so eine Reaktion eben in einer solchen Situation von ihnenerwarte. Dem Kind mit Asperger-Syndrom ist also ehrlich daran gelegen, dass es der Mutter besser geht, aber Trost stellt es sich meist in Form von praktischen Handlungen, Rückzug oder Imitieren tröstender Handlungen anderer vor.
Das auffällige Fehlen oder die besondere Art und Weise der mitfühlenden Worte oder Gesten ist klinisch bedeutsam, nicht nur im Hinblick auf die Diagnose, sondern auch, um Trostmechanismen zu erkennen, die für dieses Kind effektiv sind. Die Fachkraft untersucht also die Qualität und die Quantität der möglichen Trostvorschläge nicht zuletzt, weil diese Antworten wichtige Informationen im Hinblick darauf bieten, welche Art von Trost dem Kind selbst helfen können, wenn es von einer affektiven Störung

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